Rechtliche Konsequenzen bei einer Versorgungsknappheit: Was pas­siert wenn das rus­si­sche Gas aus­b­leibt?

Gastbeitrag von Dr. Stefan Altenschmidt und Dr. Gernot-Rüdiger Engel

17.04.2022

Der Krieg in der Ukraine gefährdet die Gasversorgung. Die Industrie muss sich auf einen Lieferstopp vorbereiten. Dr. Stefan Altenschmidt und Dr. Gernot-Rüdiger Engel zeigen Handlungsoptionen auf und erörtern denkbare Entschädigungsansprüche. 

Die Ausrufung der Frühwarnstufe des nationalen Notfallplans Gas durch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zeigt, welche Auswirkungen der Ukraine-Krieg auf die deutsche Energieversorgung haben kann. Bei einem Stopp russischer Gasimporte droht die Abschaltung von Hüttenwerken und Chemieanlagen. Industrie und Bundesnetzagentur warnen bereits vor den gravierenden Konsequenzen im Fall einer Gasmangellage. Massive wirtschaftliche Schäden sind dann unvermeidbar.  
 
Ganz ohne Schutz sind die betroffenen Unternehmen in einem solchen Fall aber nicht. Es bestehen gesetzlich begründete Entschädigungsansprüche. Auch Schadensersatz aus einer Amtshaftung des Bundes für das energiewirtschaftliche Handeln der Großen Koalition unter der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt in Betracht.

Was passiert im Fall einer Gasknappheit? 

Gesetzliche Grundlage für staatliche Eingriffe in die Gasversorgung ist das aus der Zeit der Ölkrise Mitte der 1970er Jahre stammende Energiesicherungsgesetz (EnSiG). Die Bundesnetzagentur erhält hierdurch als Lastverteiler weitreichende Eingriffsbefugnisse: Sie kann Industrieunternehmen das Gas abstellen, Gaskraftwerke stilllegen und Lieferverträge per Verwaltungsakt ändern. Die Bundesregierung muss als Voraussetzung hierfür einen Notfall für die Gasversorgung feststellen.  
 
Oberstes Ziel ist dann, wenigstens besonders geschützte Kunden aus dem Bereich der privaten Haushalte und sozialer Einrichtungen sowie der Fernwärmeeinrichtungen mit dem verbleibenden Gas zu versorgen. Die von den Verfügungen der Bundesnetzagentur betroffenen Unternehmen erbringen somit ein Sonderopfer, damit es in den Privatwohnungen und den Altenheimen warm bleibt.  
 
Das EnSiG verpflichtet den Bund in einer solchen Situation zur Staatshaftung. Jedenfalls dann, wenn es durch eine Abschaltverfügung zu besonders massiven Eingriffen in das Eigentum, etwa an einer Industrieanlage, kommt, muss nach § 11 EnSiG eine Entschädigung gezahlt werden. Diese ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bemessen. Sie orientiert sich nicht am entstandenen Schaden, sondern soll lediglich die Unzumutbarkeit des staatlichen Eingriffs ausgleichen. Soweit behördliche Beschränkungen der Gaslieferungen wirtschaftliche Existenzen gefährden oder gar vernichten, sieht § 12 EnSiG einen Härteausgleich vor. Der Bund ist in diesen Fällen und bei ähnlich unbilligen Härten ebenfalls zu Entschädigungszahlungen verpflichtet.  
 
Anders als bei den staatlichen Wirtschaftshilfen in der Corona-Pandemie, haben Betroffene auf die Entschädigungen für Verfügungen der Bundesnetzagentur nach dem EnSiG einen Rechtsanspruch. Dieser ist nach den Vorgaben der Verordnung über das Verfahren zur Festsetzung von Entschädigung und Härteausgleich nach dem Energiesicherungsgesetz bei der Bundesnetzagentur geltend zu machen. Im Streitfall steht der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten offen. 

Gasversorgung ist kein Projekt der Privatwirtschaft 

Weitergehende Schadensersatzansprüche betroffener Unternehmen gegen den Bund nach den Grundsätzen der Amtshaftung, Art. 34 GG und § 839 BGB, sind zudem denkbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Gewährleistung einer sicheren Energieversorgung kein privatwirtschaftliches Projekt. Die Karlsruher Richter sehen hier vielmehr den Staat in der Verantwortung: Die ständige Versorgung mit Gas und Strom ist danach so wichtig wie das tägliche Brot.  
 
Aus den Grundrechten und dem Menschenwürdegehalt des Grundgesetzes leiten die Verfassungshüter in der Garzweiler-Entscheidung von 2013 die Sicherheit der Energieversorgung als eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung für das Gemeinwohl, für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz und für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft ab. Bundesregierung und Bundestag haben hierbei zwar ein weites politisches Ermessen, sie bewegen sich aber nicht in einem rechts- und gerichtsfreien Raum.  
 
Ein objektiver Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit erscheint offensichtlich. Die Entscheidung, nahezu zeitgleich aus der Kernkraft und der Kohleverstromung auszuscheiden und für eine Übergangszeit bis zu einer vollständigen Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien auf einen stärkeren Einsatz von Gaskraftwerken zu setzen, resultiert in einer Abhängigkeit von Erdgasimporten. Diese sollten vorrangig aus Russland erfolgen. LNG-Terminals für den Bezug von Flüssiggas aus anderen Weltregionen wurden als ausschließlich unternehmerische Vorhaben angesehen und daher infolge bisher fehlender Wirtschaftlichkeitsperspektiven nicht verwirklicht. Warnungen der globalen Partner und Verbündeten vor den offensichtlichen Gefahren dieser Politik für die deutsche Energieversorgung und auch die Sicherheit des Kontinents wurden ignoriert.  

Die Frage der Amtspflichtverletzungen  

Angesichts der tatsächlichen Verwirklichung dieser Risiken ist es nicht fernliegend, hier Amtspflichtverletzungen der früheren Regierungsmitglieder und der Bundestagsabgeordneten der Großen Koalition zu erkennen. Diese sind dem Auftrag des Grundgesetzes, die Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten und Vorsorge für unterbrochene russische Gaslieferungen zu treffen, nicht hinreichend gerecht geworden. Das Land steht vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Energiepolitik. Deutschland muss um die Sicherheit seiner Gasversorgung bangen. 
 
Derartige Amtspflichtverletzungen durch Minister und Abgeordnete sind allerdings nicht leicht juristisch geltend zu machen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist, auch zur Wahrung des politischen Ermessens der Entscheidungsträger, restriktiv. Sie unterscheidet danach, ob drittgerichtete Amtspflichten verletzt wurden oder nur solche, die lediglich gegenüber der Allgemeinheit bestehen. Die obersten Zivilrichter verlangen zudem bei einem gesetzgeberischen Unterlassen und daraus resultieren Schäden eine Gesetzesentscheidung des Bundestags zugunsten einer Entschädigung. Dies soll auch dazu dienen, die Budgethoheit des Parlaments zu sichern.  
 
Allerdings steht die sichere Energieversorgung nach dem Bundesverfassungsgericht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Grundrechten und der Menschenwürde. Das hierauf bezogene Handeln von Regierung und Parlament dient somit auch dem Schutz des Einzelnen. Zudem setzte sich das Bundesverfassungsgericht erst 2020 in seiner Kunduz-Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ab. Amtshaftungsansprüche sollen danach nicht von einer Zubilligung durch das Parlament abhängig gemacht werden können, da sie auch dem Grundrechtsschutz dienen. Für den Fall des Eintritts der Notfallstufe und der staatlichen Beschränkung der Gasversorgung ist es damit nicht abwegig, eine Amtshaftung des Bund für Schäden zu fordern.  
 
Die Bundesnetzagentur bereitet sich derzeit auf den Eintritt des Notfalls vor. Durch eine eigene Datenerhebung und Schutzanträge gasverbrauchender Unternehmen sammeln die Beamten Informationen dazu, wer auch bei Eintritt einer Gasmangellage weiterhin auf die Gasversorgung angewiesen ist und nicht abgeschaltet werden darf. Solche Informationen müssen dann bei der notfalls von der Bundesnetzagentur zu treffenden Ermessensentscheidung, bei welchen Verbrauchern das Gas zuerst abgedreht wird, berücksichtigt werden.  
 
Ein Stopp russischer Erdgasimporte würde voraussichtlich hohe Schäden zur Folge haben. Es ist geboten, diese bereits jetzt durch Vorfeldmaßnahmen und genaue Datenerhebungen zu minimieren – auch, um einen späteren Streit über Entschädigung und Schadensersatz möglichst zu vermeiden. 
  
Dr. Stefan Altenschmidt und Dr. Gernot-Rüdiger Engel sind Partner der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft und unter anderem im öffentlichen Energierecht tätig. 

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

Rechtliche Konsequenzen bei einer Versorgungsknappheit: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48144 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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