Anfang dieses Jahres waren Videoverhandlungen an den Gerichten noch weitgehend unbekannt, inzwischen reden alle darüber: Die Gerichte klagen über die mangelnde Bereitschaft der Anwälte, die Anwälte über ablehnende Gerichte.
Eine Richterin im Sitzungssaal, ein Parteivertreter in seiner Kanzlei und ein Sachverständiger im heimischen Wohnzimmer: Zivilverfahren per Videoverhandlung zu führen, war Anfang dieses Jahres noch ein weitgehend unbekanntes Format. Es waren eher einige wenige Anwälte, die gelegentlich einen Antrag nach §128a Zivilprozessordnung (ZPO) stellten, um sich beispielsweise eine weite Anreise zu sparen. Und einige wenige Gerichte, wie das Landgericht (LG) Hannover, bei denen nicht unbedingt häufig, aber immerhin schon regelmäßig Videoschalten eingesetzt wurden.
Tatsächlich gibt es diese Möglichkeit grundsätzlich schon seit 2002, seit 2013 gilt §128a ZPO in der aktuellen Fassung. Seitdem kann das Gericht eine Videoverhandlung auf Antrag oder von Amts wegen anordnen. Der Richter bleibt dabei immer im Gerichtssaal, die Verhandlung ist öffentlich, Prozessbeteiligte und ihre Vertreter, Zeugen und Sachverständige können aber zugeschaltet werden.
Doch erst seitdem die Covid-19-Pandemie auch die Justiz gezwungen hat, neue Wege für Verhandlungen zu finden, erlebt §128a ZPO einen kleinen Boom, wird in Fachzeitschriften und sozialen Netzwerken diskutiert, sorgt aber auch auf allen Seiten immer mal wieder für Frust.
LG-Präsidentin: Anwälte ermuntern, die Videoverhandlungen auszuprobieren
Inzwischen machen manche Gerichte regelrecht Werbung für virtuelle Gerichtsverhandlungen – und beklagen, dass das Angebot in der Anwaltschaft nicht so angenommen wird, wie sie es erwartet hatten. So bietet etwa das LG München I nun zusammen mit der Rechtsanwaltskammer München Online-Informationsveranstaltungen an, in denen die neue Technik ausprobiert werden kann. Für das Jahr 2020 wurden mehr als 100 Videoverhandlungen terminiert: "Ich kann alle Anwältinnen und Anwälte nur ermuntern, unsere Videokonferenzanlage oder eine Verhandlung mittels Teams einmal auszuprobieren. Wir haben hier durchaus noch Kapazitäten“, so die Präsidentin des LG München I, Dr. Andrea Schmidt.
Auch am kleineren LG München II will man die Online-Verfahren deutlich ausbauen. Seit Anfang des Jahres gab es mehr als 80 Videoverhandlungen, von den 41 Zivilrichterinnen und -richtern haben rund 15 die Videokonferenzanlage schon ausprobiert, schätzt die Sprecherin des Gerichts. Die Rückmeldungen aus dem Kollegenkreis seien sehr positiv: "Da hat keiner gesagt: ‘Das mache ich nicht nochmal!’". Nun werden zusätzlich zu einer festinstallierten Anlage vier mobile Anlagen angeschafft, davon sind drei für die Amtsgerichte im Bezirk*. Vor dem Verhandlungstermin gibt es die Möglichkeit, sich in einem Testlauf zuzuschalten – so will man vor allem den Parteivertretern die Sorge nehmen, dass in der Verhandlung etwas schiefgehen könnte. “Anfragen seitens der Anwälte kommen allerdings sehr vorsichtig - dass wir über die technischen Möglichkeiten verfügen, hat sich schlicht noch nicht herumgesprochen”, so die Sprecherin.
Auch andere Gerichte haben aufgerüstet: Seit Juli können am LG Berlin an beiden Dienststellen Videokonferenzanlagen genutzt werden. Zum Start lud die Pressestelle ausdrücklich auch Pressevertreter zu einer Videoverhandlung ein. Mittlerweile würden Videoverhandlungen, insbesondere am LG Berlin, stärker genutzt, so ein Sprecher. "Die Gerichtsverwaltungen der Berliner Zivilgerichte haben in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung den Kollegen die Technik zur Verfügung gestellt und ich habe den Eindruck, das wird auch gut angenommen."
Anwälte: Viele Gerichte lehnen Videoverhandlungen ab
Auf der anderen Seite haben längst nicht alle Anwältinnen und Anwälte den Eindruck, dass die Möglichkeiten,Videoverhandlungen anzusetzen, ausgenutzt werden: „Meiner Erfahrung nach gehen an den Gerichten Wunschdenken und Wirklichkeit noch weit auseinander", so der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Michael Selk gegenüber LTO: "Vor allem an vielen Amtsgerichten gibt es Probleme und es fehlt an der technischen Ausrüstung und an Sälen, die für Videoverhandlungen genutzt werden können.“ Er kritisiert: „Wenn man als Anwalt eine Videoverhandlung beantragt, wird das in neunzig Prozent der Fälle abgelehnt oder gar nicht erst beantwortet. Es klappt aber eigentlich immer dann gut, wenn das Gericht selbst vorschlägt, eine Videokonferenz zu machen.“
Ähnlich sieht es Wolf Müller von der Kanzlei GvW Graf von Westphalen. Seit Mitte 2019 stellten er und seine Kollegen regelmäßig entsprechende Anträge. Dabei gebe es zwar bundesweit einzelne Gerichte, die darauf sehr aufgeschlossen reagierten, aber auch viele ablehnende Beschlüsse. Seiner Ansicht nach würden die Parteien gerne häufiger Videoverhandlungen in Anspruch nehmen: "Wir haben bis heute keinen Fall erlebt, in dem zwar das Gericht eine mündliche Verhandlung via Videokonferenz angeregt, die Parteien diese jedoch abgelehnt haben. Die umgekehrte Konstellation ist der Regelfall."
Das Problem: Die Parteien haben keinen Anspruch auf eine Videoverhandlung, ablehnende Beschlüsse des Gerichts sind unanfechtbar. "Damit steht und fällt die Durchführung von Videokonferenzen letztlich und regelmäßig mit der Bereitschaft des Gerichts", so Müller. Warum ein Antrag abgelehnt werde, sei nicht immer ganz klar: "Bisweilen wird eine Videokonferenz als Alternative zur klassischen mündlichen Verhandlung offen abgelehnt, in anderen Fällen wird die Undurchführbarkeit mit mangelnder technischer oder räumlicher Ausstattung begründet." Da stelle sich die Frage, ob die Gerichte ihr Ermessen pflichtgemäß ausgeübt haben.
Ein solches Ermessen ergibt sich aus den staatlichen Schutzpflichten (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz), die auch die Justiz treffen, erklärt Benedikt Windau, selbst Zivilrichter am LG Oldenburg und Herausgeber des ZPO-Blogs. "Auch Gerichte sind verpflichtet, das Leben und die Gesundheit der Prozessbeteiligten zu schützen. In den dafür geeigneten Fällen lässt sich dieser Schutz am besten umsetzen, indem im Wege der Bild- und Tonübertragung verhandelt wird."
LG Bielefeld: "Wir haben nur einen virtuellen Raum"
Einig sind sich Justiz und Anwaltschaft, dass sich längst nicht alle Verfahren für Videoverhandlungen eignen, etwa wenn viele Zeugen angehört werden sollen oder wenn ein persönlicher Eindruck unerlässslich ist. Klar ist aber auch, dass noch viel Luft nach oben ist. Hört man sich an den verschiedenen Landgerichten um, ist der Eindruck sehr unterschiedlich.
So werden am LG Hannover nach eigenen Angaben schon in schätzungsweise 20 Prozent aller Zivilverfahren Videoverhandlungen eingesetzt, mittlerweile ist dort jeder Saal mit Videokonferenztechnik ausgestattet. Am LG Dresden wurde dagegen auch 2020 trotz zweier Lockdowns keine einzige Videoverhandlung geführt, am LG Bremen wurde die Videokonferenzanlage "in Einzelfällen" genutzt.
Die meisten Gerichte verfügen zwar über mindestens eine Videokonferenzanlage, aber dennoch gibt es technische Probleme. Teilweise wurden etwa Kameras so installiert, dass sie zwar zwischen der Richterbank und den Prozessbeteiligten schwenken können – aber nicht beide gleichzeitig ins Bild nehmen. Nimmt nur eine Partei per Video teil, die andere aber vor Ort im Gerichtssaal, entsteht ein echter Nachteil: Am Bildschirm lässt sich das Geschehen nicht auf einen Blick erfassen – dabei ist es vielleicht schon interessant, ob die gegnerische Anwältin zuckt oder der Richter lächelt.
Ein anderes Problem ist die Zeitplanung: Die Nutzung der Videoanlagen muss rechtzeitig beantragt, der entsprechende Raum oder eine mobile Anlage geblockt werden. Am LG Bielefeld zum Beispiel soll demnächst eine zweite Videoanlage einsatzbereit sein, aber dennoch kann nur eine Videoverhandlung zurzeit durchgeführt werden - und das liegt an der Software: "Wir haben nur einen virtuellen Raum", so ein Sprecher.
Längst gibt es deshalb von vielen Seiten, auch vom Deutschen Anwaltverein und vom Deutschen Richterbund, Forderungen, die Gerichte besser auszustatten. Damit die Technik dann auch zum Einsatz kommt, muss die Justiz aber voraussichtlich noch viel Überzeugungsarbeit leisten: nach innen und nach außen.
*Ergänzt am Tag der Veröffentlichung, 12:23: Drei der vier neuen Videokonferenzanlagen sollen den Amtsgerichten zur Verfügung gestellt werden.
Videoverhandlungen an den Zivilgerichten: . In: Legal Tribune Online, 16.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43748 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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