Querdenker in der Justiz: Corona-Rebellen in Robe

Gastbeitrag von Joachim Wagner

27.11.2021

Anfang 2021 gründete sich ein Netzwerk von Richtern und Staatsanwälten – sie kritisieren die Corona-Politik, feiern umstrittene Gerichtsentscheidungen. Wer steckt hinter der Gruppe? Und sind die Juristen eine Gefahr für den Rechtsstaat?

Als der Berliner Landgerichtsrichter Pieter Schleiter am 26. Oktober 2020 in einer Fußgängerzone in Potsdam von Ordnungskräften angehalten wurde, trug er keine Maske, obwohl eine Allgemeinverfügung* das von ihm verlangte. Laut einem Reporter der Märkischen Allgemeinen Zeitung, der den Ordnungsdienst bei dem Kontrollgang begleitete, soll Schleiter bei der Ausweiskontrolle gesagt haben: "Ich halte die Maskenpflicht für verfassungswidrig." Für einen Richter ein bemerkenswerter Akt zivilen Ungehorsams.  

Gegen mehrere Rechtsverordnungen und zwei Normen des Infektionsschutzgesetzes* legte Schleiter eine 190 Seiten starke Verfassungsbeschwerde ein. Mit ihr griff er unter anderem das Infektionsschutzgesetz des Bundes an. Und da klotzte er juristisch: 14 von 17 Grundrechten sollten nach seiner Meinung durch Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen verletzt sein. Seine Verfassungsbeschwerde stellte er ins Netz und sprach damit anscheinend zahlreichen Justizkolleginnen und -kollegen aus dem Herzen.  

Ein Netzwerk von Corona-Rebellen gründet sich  

Aus einer informellen Diskussion seiner rechtlichen Thesen gründete sich am 14. Januar 2021 das "Netzwerk Kritischer Richter und Staatsanwälte": eine Widerstandszelle in der Justiz gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen. Schleiter rückte in den Vorstand. Laut der Vereins-Homepage ist das Netzwerk "politisch neutral" und die Richter und Staatsanwälte vertreten dort ihre "privaten Meinungen": Es "versteht sich als Ansprechpartner und Stimme von Kollegen und Kolleginnen in der Justiz, deren Arbeit und Unabhängigkeit durch anderslautende politische Vorgaben unter Druck ist." "Mit Sorge" verfolgt der Zusammenschluss die "Corona-Eindämmungsmaßnahmen", die es "in erheblichen Teilen für verfassungsrechtlich unzulässig" hält.  

Begründet wird das auf der Website mit einem Dutzend rechtlicher Abhandlungen, unter anderem zur Maskenplicht in Gerichtsverhandlungen, strafrechtlichen Fragen zu Impfteams in Schulen oder zur Abfrage des Impfstatus bei Arbeitnehmern. Einige Artikel sind namentlich gezeichnet, etliche stammen von einem anonymen Autor "pedro". Wer mit der Maus über den Namen fährt, bekommt angezeigt, dass der Beitrag dem Autor "pschleiter" zugeordnet wird. Warum muss der Vorstand auf seiner eigenen Seite mutmaßlich unter Pseudonym schreiben? Schleiter selbst gibt an, die Beiträge unter „pedro“ seien solche, die "von Autorenteams aller Mitglieder" verfasst worden seien.*  

Hinter den sachlichen Überschriften der Beiträge verbergen sich Aufsätze mit eindeutiger Tendenz: regierungskritisch mit Absolutheitsanspruch, im Ton aggressiv bis polemisch. Die Corona-Rebellen in Robe haben im Netz einen juristischen Kreuzzug gegen die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen gestartet, der in Teilen der Justiz ein überraschend positives Echo gefunden hat. Wer sich mit dem ehemaligen Sprecher des Netzwerkes Oliver Nölken, Amtsrichter in Recklinghausen, unterhält, erfährt, dass sich dem Netzwerk zeitweise bis zu 60 Robenträger mit "gemeinsamer Wellenlänge" angeschlossen haben sollen. Mit Ausnahme Hamburgs sollen sie aus allen Bundesländern kommen. Kommuniziert werde unter den rund 20 aktiven Mitgliedern meist über Messengerdienste und Zoom-Konferenzen. Nach Angaben des Netzwerks selbst beteiligen sich sogar 40 Mitglieder regelmäßig an der Kommunikation über Messengerdienste.* Nur zwei persönliche Treffen hätten bisher stattgefunden. Unter den Mitgliedern finden sich auffällig viele pensionierte Richter, so Nölken. Einer von ihnen, Manfred Kölsch, hat jüngst sein Bundesverdienstkreuz aus Protest gegen die staatlichen Corona-Bekämpfungsmaßnahmen zurückgegeben, wie auf der Website des Netzwerks stolz geschrieben wird. 

Impfangebot sorgt für Grabenkämpfe 

Für Justiz und Rechtsstaat bedenklicher ist, dass das Bündnis auch Corona-Verharmloser und -Leugner versammelt. Das offenbart die Verfassungsbeschwerde Schleiters. Darin meint er unter anderem, dass es "keinesfalls belegt" sei, dass das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung" "für den Schutz der Bevölkerung vor Infektionen mit dem Virus" "geeignet" sei, und dass die "Therapie" der staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen "wahrscheinlich" "tödlicher und schädlicher" sei als die "Krankheit" selbst. Das Netzwerk selbst streitet ab, dass unter den Mitgliedern Corona-Leugner seien. Gegenüber LTO erklärt es, das Virus würde vom Netzwerk "durchaus als gefährlich" bewertet, "allerdings nicht derart, dass Maßnahmen mit solch immenser Eingriffsintensität gerechtfertigt wären“.*

Schleiter kündigte in der Verfassungsbeschwerde an, sich einer "Quarantäne" nicht "beugen" zu wollen, weil "ein ihr zugrunde liegender positiver PCR-Test" "keine verlässliche Grundlage zur Feststellung einer Infektion" darstelle." Ins Verschwörerische gleitet er ab, wenn er unkt, dass "Zensur" stattfinde und viel "Geld im Spiel" sei, um "Sachverständige" zu bezahlen, die "Entscheidungen wirkungsvoll beeinflussen" könnten. 

Wie weit diese Thesen im Netzwerk konsensfähig sind, ist schwer zu beurteilen. Ein anderes Thema entwickelte sich jedoch jüngst in der Gruppe zum Spaltpilz: das Impfangebot. Zu den Impfgegnern gehört nach seiner Verfassungsbeschwerde auch der Netzwerkmitbegründer Schleiter. Nach monatelangen Grabenkämpfe zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern verließen die Sprecher Nölken und Thomas Braunsdorf sowie der Erfurter Landgerichtsrichter Detlev Pahl das Netzwerk "wegen unüberbrückbarer Differenzen über die weitere Entwicklung und Ausrichtung". In der Austrittserklärung vom 9. September 2021 werfen sie der Mehrheit der Impfgegner vor, das Netzwerk "als eine Art justizieller Arm der Querdenker-Bewegung zu positionieren". In ihrer Wahrnehmung nimmt bei ihr "medizinisches Halbwissen, Esoterik und Verschwörungsgeraune einen immer größeren Raum ein". In den vergangenen Monaten sei es "mehrfach vorgekommen, dass Corona-Schutzmaßnahmen in einem Zusammenhang gerückt und verglichen, ja sogar gleichgesetzt wurden mit biologischen Kampfstoffen, Völkermord und dem Holocaust". Das Netzwerk nimmt zu diesem Vorwurf gegenüber LTO wie folgt Stellung: "Unter den tausenden der Nachrichten haben sich in zwei oder drei Fällen weitergeleitete absurde Inhalte aus anderen Netzwerken befunden, die von den Weiterleitenden gedanklich nicht voll erfasst wurden. Als dies auffiel, hat das Netzwerk Chat-Regeln zur Sicherung von Qualitätsstandards eingeführt."* 

Das Netzwerk feiert Maskenentscheidungen aus Weimar 

Ein Grund zum Feiern bot sich der Gruppe im April 2021. Mit einem Beschluss erklärte der Weimarer Amtsrichter Christian Dettmar die Maskenpflicht in den Schulen für verfassungswidrig und nichtig. Auf der Website ist vom "Paukenschlag von Weimar" und der "Rückkehr zur Normalität an Schulen" zu lesen. Querdenker-Gruppen und rechte Medien jubelten: ein "Sensationsurteil".  

Mit diesem Beifall ist das Netzwerk unter Juristen allein geblieben. Höhere Gerichtsinstanzen, Rechtswissenschaftler und die betroffenen Landesregierungen haben den Beschluss des Amtsrichters Dettmar und zwei im Ergebnis gleiche Beschlüsse - einer ebenfalls vom AG Weimar und einer vom AG Weilheim - scharf kritisiert, aufgehoben oder ignoriert. Im Oktober 2021 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass für die rechtliche Überprüfung der Maskenpflicht in Schulen allein die Verwaltungsgerichte zuständig seien.  Das Verwaltungsgericht Weimar erklärte Dettmars Entscheidung für "offensichtlich rechtswidrig". Über seinem Weimarer Amtsrichterkollegen sagte das Oberverwaltungsgericht Thüringen in einem Parallelverfahren wenig schmeichelhaft: "Soweit er pauschal die Expertise des Robert-Koch-Instituts als fehlerhaft und deren Prognosen als falsch bezeichnet, lässt dies selbst eine unseriöse Auseinandersetzung und Unkenntnis der Aussagen erkennen".

Auch die Frage, ob die drei Amtsrichter in Weimar und Weilheim dem Netzwerk angehören, will der aktuelle Sprecher des Netzwerks auf Anfrage nicht beantworten. Und auch der Ex-Netzwerksprecher Nölken will dazu nichts sagen: "Wir geben grundsätzlich keine Auskünfte über unserer Mitgliedschaft." Grund dafür sei, "dass viele Mitglieder anonym bleiben wollen." Es sei nämlich vorgekommen, dass Gerichtspräsidenten zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg informell Druck auf Richter ausgeübt haben, wenn diese die Parteien im Gerichtssaal aufgefordert hätten, während der Verhandlung Masken abzulegen. 

Als Gegner der Maskenpflicht im Gerichtssaal war auch der Weimarer Amtsrichter Dettmar bekannt. Sein Beschluss und die Entscheidungen seiner Dissidenten-Kollegen weisen zahlreiche Parallelen zu den Beiträgen und Gutachten auf der Homepage des Netzwerkes auf – einschließlich ihrer Defizite. So behauptet Richter Dettmar ohne medizinische Belege, dass "Gesichtsmasken" das "geistige, körperliche und seelische Wohl" von Kindern "schädigen". Für seine Rechtsmeinung stützt er sich selektiv nur auf Wissenschaftler, die als Corona-Kritiker bekannt sind - ein eklatanter Verstoß gegen die richterliche Neutralität. Sein Dissidenten-Kollege am Weimarer Amtsgericht behauptet, dass "kein Zweifel daran bestehen" könne, "dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahme der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt".  

Die beunruhigende Schlüsselfrage für die Zukunft der Justiz und des Rechtstaates lautet: Wie kann es passieren, dass "90 Prozent der Gerichtsurteile", wie selbst Ex-Netzwerk-Sprecher Nölken einräumt, die mit Grundrechtseinschränkungen verbundenen staatlichen Coronaschutzmaßnahmen als rechtmäßig einstufen, eine Minderheit dagegen beharrlich die Gegenmeinung vertritt?  

Keine Trennung zwischen "alternativen Fakten" und Realität? 

Bei diesem Dissens geht es nicht mehr um die übliche Kontroverse zwischen Mehrheits- und Minderheitsmeinung in Rechtsprechung und Rechtwissenschaft. Seine Wurzel reichen tiefer. In den Äußerungen des Netzwerks taucht wiederholt die Forderung nach einer "faktenbasierten, offenen, pluralistischen Diskussion juristischer Fragestellungen der Corona-Krise" auf. Damit unterstellt sie, dass die Mehrheitsmeinung nicht "faktenbasiert" ist, die eigene aber sehr wohl.  

Umgekehrt wirft etwa die linksliberale Neue Richtervereinigung dem Amtsrichter Dettmar "Wissenschaftsleugnung" vor und der Regensburger Strafrechtslehrer Hennig-Ernst Müller spricht von einem "postfaktischen" Abstreiten der Corona-Rebellen in Roben. Wir begegnen hier in der Justiz gespaltenen Realitäten beziehungsweise Wahrheiten von der Corona-Krise, die unversöhnlich nebeneinanderstehen.  Das Phänomen ist neu und muss nachdenklich stimmen. Offenbar ist auch die Dritte Gewalt von einer Erkenntnisschwäche infiziert, die in der Trump-Ära unter den Schlagworten "alternative Fakten" und "alternative Quellen" Furore gemacht haben.

Das Netzwerk selbst sieht sich hingegen in einer Stellungnahme der Wahrheit verpflichtet. Es gelte der Grundsatz "Höre die andere Seite". Anspruch sei es, "durch Prüfung aller Informationen und Diskussion hierüber möglichst nahe an die Wahrheit zu kommen".*  

Wer die Website des Netzwerkes, die rechtlichen Gutachten, Chats und Kommentare der User liest, begegnet einer Online-Community, die sich fortwährend gegenseitig bestätigt und sich dabei eine zweite Realität beziehungsweise Wahrheit der Corona-Pandemie gezimmert hat. Ein Beispiel: "Die speziell gegen Kinder gerichteten Maßnahmen der Pandemiebekämpfung" sollen "nicht die Kinder und niemanden sonst geschützt haben": "Sie haben sich international als wirkungslos erwiesen." Beleg? Fehlanzeige. Die User, mehrheitlich offenbar aus der Echokammer der Querdenker und Corona-Leugner, zollen fast nur Dank und Beifall: "Auf diesem Wege möchte ich Sie im Namen vieler Menschen ermutigen, nicht aufzugeben und weiter zu kämpfen", schreibt eine Gesinnungsgenossin. Dann folgt meist politischer Flankenschutz: "Wir dürfen es nicht zulassen, dass Unrecht und Unfreiheit regiert – wir brauchen keine DDR 2.0". Dass das Netzwerk fast nur Applaus aus diesem Milieu bekommt, hat es sich selbst zuzuschreiben 

"Wenn wir nicht in der Lage sind, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden", sagte der ehemalige US-Präsident Barack Obama einmal, "dann funktioniert unsere Demokratie grundsätzlich nicht". Auf den Rechtsstaat übertragen heißt dies: Wenn Teile der Justiz nicht mehr in der Lage sind, in der Corona-Krise zwischen Realität und alternativen Fakten zu trennen, funktioniert der Rechtsstaat nicht mehr. 

Der Autor ist Volljurist und arbeitete jahrelang für den NDR, war Leiter von Panorama sowie des ARD-Studios London, zuletzt stellvertretender Chefredakteur des ARD-Hauptstadtstudios. Er ist als freier Journalist und Autor aktiv. Im Herbst erschien sein Buch "Rechte Richter" im Berliner Wissenschafts-Verlag. 

* Im Nachgang an die Veröffentlichung hat sich Pieter Schleiter vom Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte bei LTO gemeldet und die Gegendarstellung einiger Punkte begehrt. Wir haben daraufhin den Text an einigen Punkten um Stellungnahmen ergänzt, auch wenn es sich hierbei um Meinungsäußerungen handelt. Zudem wurde korrigiert, dass Herr Schleiter nicht gegen eine Rechtsverordnung, sondern gegen eine Allgemeinverfügung verstoßen hat, sowie, dass er gegen mehrere Rechtsverordnungen und zwei Normen des Infektionsschutzgesetzes Verfassungsbeschwerde eingereicht hat und nicht, wie es zuvor hieß, gegen einen Bußgeldbescheid. 

 

Zitiervorschlag

Querdenker in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46769 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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