Das Verfassungsgericht Polens muss entscheiden, ob es dem polnischen Recht Vorrang vor dem EU-Recht einräumen will. Was auf dem Spiel steht, wie es so weit kommen konnte, und warum eher kein "Polexit" droht, erklärt Oscar Szerkus.
Bisher war auch 2021 für den polnischen Rechtsstaat kein gutes Jahr: Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus März und Juli torpedierten wesentliche Säulen der durch die Regierungspartei PiS reformierten Justiz. Die erste Entscheidung betraf den Nationalen Justizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS), die beiden Entscheidungen aus Juli die neue Disziplinarkammer des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy – SN). Das Fazit der EuGH-Richterinnen und Richter: Die Rechtsgrundlagen dieser Gremien sind unionsrechtswidrig. Die polnische Regierung zeigt sich jedoch unbeeindruckt und betont, die EU überschreite ihre Kompetenzen, indem sie wegen innerstaatlicher Reformen zu Rechtsmitteln greift. "Es ist ein Angriff auf Polen", so der ressortlose Minister Wójcik in einem Fernsehinterview. Daher seien solche Entscheidungen für ihn gegenstandslos.
Vorrang des polnischen Rechts vor EU-Recht?
Rückendeckung kommt vom polnischen Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny – TK). In seiner Entscheidung ebenfalls vom 14. Juli schreiben die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, dass die polnische Verfassung über dem EU-Recht stehe. Am Tag darauf sollte das TK eigentlich noch über den Normenkontrollantrag des Premierministers Mateusz Morawiecki entscheiden, im letzten Moment wurde der Termin erst auf den 3., nun auf den 31. August verschoben. Auch in diesem Verfahren geht es um die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einzelner Vorschriften der EU-Verträge, die grundsätzlich als unantastbar gelten und gegenüber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang genießen – zwei Voraussetzungen für die Integrität der EU.
Das TK wird gerade dieses Fundament hinterfragen. Eine Verschärfung des Konflikts mit der EU ist damit vorprogrammiert. Schon jetzt stellt die Kommission weitere Maßnahmen in Aussicht, sollte sich Polen nicht an die EuGH-Entscheidungen halten. Als wirkungsvoll könnten sich Strafgelder im Vertragsverletzungsverfahren erweisen, auch steht die Zustimmung der EU zum polnischen Wiederaufbauplan aus. Das "Verfassungsduell" ist der Fluchtpunkt einer Reihe an Reformen, die im Gesamtkontext der jüngeren polnischen Politik zu betrachten sind.
Die polnische Justiz war reformbedürftig – aber nicht so
Die Reformnotwendigkeit der polnischen Justiz ist kein neues Thema. In jedem Wahlkampf seit 1990 wurden die Länge der Verfahren, die komplizierte Gerichtsbürokratie und das geringe Vertrauen in die Justiz als verbesserungsbedürftig angesprochen. Zum letzten Punkt gehört seit jeher die „Bereinigung“ der Justiz von sozialistischen Strukturen, und ganz unbegründet ist dies nicht: Die größten Justizreformen fanden in den 1980-er Jahren statt, als die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) vor dem Aus stand und im Zuge der Krisenbewältigung Zugeständnisse in Form des TK oder des KRS machte. Die sozialistische Provenienz dieser Institutionen inspiriert seitdem Pläne von demokratischer Kontrolle, um deren Unabhängigkeit zu gewährleisten – in der polnischen Politik nicht unbedingt ein Gegensatz.
Konkretere Verbesserungsvorschläge machte der 2006 zum ersten Mal an der Regierung beteiligte Jarosław Kaczyński. Seine Regierung brach 2007 zusammen und Donald Tusk von der Partei PO (Platforma Obywatelska) wurde Premierminister. Nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010, bei der auch sein Bruder – Präsident Lech Kaczyński – starb, verschärfte Jarosław Kaczyński den Ton: Schuld an der Katastrophe seien Tusk und seine "antipolnische Politik", die in alle Staatsstrukturen durchgedrungen sei.; das Land – auch die Justiz – brauche deutliche Reformen. Als Tusk Ende 2014 Präsident des Europäischen Rates wurde und Polen verließ, um für die EU zu arbeiten, war der "Verrat" vollkommen.
Im gleichen Jahr wurden heimlich aufgezeichnete Gespräche veröffentlicht, in denen sich führende PO-Politiker vulgär zum Tagesgeschehen äußerten. Die Hintergründe dieser sog. Abhöraffäre sind bis heute ungeklärt. Reportagen zufolge sei der russische Geheimdienst involviert gewesen. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten die Aufzeichnungen bis heute als Paradebeispiel für die Bürgerferne der Eliten.
Ein Verfassungscoup
An der Affäre ging die PO schließlich unter und PiS siegte 2015 in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Andrzej Duda, bis kurz vor Amtsantritt selbst PiS-Mitglied, wurde Präsident. Am letzten Sitzungstag des Sejm, einer der beiden Parlamentskammern, ernannten PO-Abgeordnete noch mehrere Verfassungsrichter, deren Amtszeit erst in der neuen Legislaturperiode beginnen sollte. Möglich war dies dank einer durchgepeitschten Gesetzesänderung. Für PiS war das ein Angriff auf das Verfassungsgericht, der eigene adäquate Maßnahmen rechtfertigen sollte.
In der neuen Legislaturperiode ernannte PiS deshalb eigene Verfassungsrichter, die Duda anstelle der von der PO Ernannten Anfang Dezember 2015 vereidigte. Es entbrannte ein Streit um die Kompetenzen des Präsidenten. Die einen sprachen sich für ein Verweigerungsrecht Dudas aus, die anderen hielten die parlamentarische Ernennung für bindend. Für PiS-Gegner waren die neuen Verfassungsrichter "Nichtrichter" und deren Entscheidungen ein rechtliches Nullum. Für Anhänger Kaczyńskis waren die Vereidigungen der "richtigen" TK-Richter der Anfang langersehnter Justizreformen.
Die Geschehnisse der Folgezeit waren bereits Gegenstand umfangreicher Berichterstattung, sie lassen sich so knapp zusammenfassen: Als der Verfassungscoup mit den TK-Richtern von der Öffentlichkeit hingenommen wurde, fing PiS im Sommer 2017 an, die polnische Gerichtsverfassung zu verändern. Die Reformen bezogen sich einerseits auf weniger relevante formelle Aspekte, doch andererseits betrafen sie unmittelbar die Richterschaft, was auf internationale Kritik gestoßen ist.
Wie die PiS die Justiz umbaute
Im ersten Schritt wurde das Renteneintrittsalter der Richterinnen und Richter am Obersten Gericht (Sąd Najwyższy - SN) auf 65 Jahre abgesenkt. Rechtsstaatliche Bedenken weckte vor allem die Rückwirkung der Novelle, die laufende Amtsperioden verkürzte, aber auch eine später aufgeweichte Hintertür für Auserwählte: Im Einzelfall konnte der Präsident über die Fortsetzung der Rechtsprechungstätigkeit entscheiden. Diese Vorschriften befand der EuGH in seinen Entscheidungen vom Juni (C-619/18) und vom November 2019 (C-192/18) für europarechtswidrig.
Neben den Ruhestandsregelungen wurden im SN zwei neue Kammern eingeführt: eine Disziplinarkammer und eine Kammer für die sogenannte Außerordentliche Kontrolle, einen neuartigen Rechtsbehelf, mit dem rechtskräftige Entscheidungen aufgehoben werden können. Die Disziplinarkammer stieß vor allem wegen des Besetzungsmodus durch den Richterwahlausschuss KRS auf Kritik. Die reformierte KRS wurde von der politischen Mehrheit im Sejm abhängig, also von PiS-Abgeordneten. In der Folge kam es zu einer engen Verzahnung von Legislative und Jurisdiktion, in der zahlreiche Organisationen – etwa die Venedig-Kommission – einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien sahen. Der Streit hat praktische Konsequenzen, denn ein fehlerhaft besetzter Richterwahlausschuss kann keine wirksame Richterwahl durchführen. Damit wäre das Vorzeigeprojekt der PiS rechtlich handlungsunfähig. Aktive Richterinnen und Richter dürfen sich hierzu aber keine Meinung bilden, weil die Hinterfragung des Richterstatus – neben öffentlichen Aussagen über die Justizreformen – zu den neuen Disziplinardelikten zählt.
Diese Teilaspekte der KRS-Novelle standen bereits mehrfach beim EuGH auf dem Prüfstand: im November 2019 (verbundene Rechtssachen C-585/18, C-624/18, C-625/18), im April 2020 (Eilverfahren C-791/19 R), im März 2021 (C-824/18) und nun zweifach im Juni 2021 (Eilverfahren C-204/19 R und C-791/19). Insgesamt sei die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleistet, deren Tätigkeit müsse sofort unterlassen werden. Dabei beruhen die EuGH-Entscheidungen auf einer Prüfung polnischen Rechts am Maßstab der EU-Verträge. Aus Sicht der PiS boykottiert die EU damit wesentliche Justizreformen und greift in die mitgliedstaatliche Gesetzgebung ein. Nach dieser Betrachtungsweise ist es konsequent, das TK nach einer Lösung zu fragen; wäre da nur nicht das Problem der rechtswidrigen Richterernennung aus 2015.
Verschiebt das polnische Verfassungsgericht seine Entscheidung noch einmal?
Von der anstehenden Entscheidung des TK am 31. August ist keine Kehrtwende von der bisherigen Rechtsprechung zu erwarten. Wahrscheinlicher ist eine erneute Verschiebung des Termins, diesmal um mehrere Monate. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage nach den praktischen Folgen der bisherigen Justizreformen. Ob polnische Gerichte tatsächlich effizienter funktionieren, lässt sich nicht sagen. Offizielle Untersuchungen des zuständen Justizministeriums fehlen. Andauernde Konflikte rund um die Justiz tragen aber gewiss nicht zur Stärkung des Vertrauens in die richterliche Tätigkeit bei. Im Alltag dürften politisch motivierte Entscheidungen eine Seltenheit sein, weil ein Gros der anhängigen Verfahren keinen politisch relevanten Bereich berührt. Spricht man mit polnischen Juristinnen und Juristen wird aber deutlich, dass das Gefühl der Rechtssicherheit allgemein schwindet. Verfassungsrechtlichen Debatten sei die juristische Grundlage entzogen worden, alles könne zerredet, gefestigte Prinzipien hinterfragt werden, so auch die Gewaltenteilung oder der Anwendungsvorrang des EU-Rechts. Auch vielen PiS-Anhängern sind die Justizreformen zu weit gegangen, weil sie dem internationalen Ansehen Polens schaden.
Ein "Polexit", also ein Austritt Polens aus der EU, ist zwar nicht ausgeschlossen, dürfte aber nicht auf der Wunschliste der PiS stehen. Vielmehr geht es darum, das Parteiprogramm so weit wie möglich durchzusetzen, und beim Scheitern einzelner Vorhaben auf die EU als Schuldigen zeigen zu können. Umso wichtiger ist es, dass die EU nun konsequent durchgreift und ein deutliches Signal setzt, dass es Grenzen gibt, die kein Mitgliedstaat überschreiten darf. Alles andere führt zur Schwächung der europäischen Integrität und zur Bestätigung despotischer Machenschaften einzelner politischer Entscheidungsträger, für die die EU je nach aktueller Wetterlage Geldgeber oder lästiger Widersacher ist.
Der Autor Dr. Oscar Szerkus ist Rechtsanwalt bei der Sozietät Gentz und Partner in Berlin. Er ist auf das Gesellschaftsrecht und das Erbrecht, jeweils mit polnischem Einschlag, spezialisiert.
Streit mit EU über Justiz: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45602 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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