Nach einem EuGH-Urteil eskaliert der Konflikt um die Unabhängigkeit polnischer Richter. Das Oberste Gericht erkennt die umstrittene Disziplinarkammer nicht an, nun muss das Verfassungsgericht entscheiden. Die PiS-Regierung macht Druck.
Der Konflikt in der polnischen Justiz spitzt sich zu: Am 19. Februar wird das polnische Verfassungsgericht entscheiden, ob das Oberste Gericht Polens die Legitimität neu ernannter Richter in Frage stellen kann. Möglicherweise wird das Verfassungsgericht sich in seiner Entscheidung gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) stellen. Wie auch immer das Gericht entscheidet – es wird nicht das letzte Kapitel in der seit Jahren andauernden Auseinandersetzung um die Justiz-Reformen sein.
Die polnische Regierung versucht seit 2015 hartnäckig die dritte Gewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie unternimmt gelegentliche taktische Rückzüge, aber an ihrer Absicht, die Justiz zur Loyalität mit der Regierung zu zwingen, wird sich nicht ändern. Die Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová sagte kürzlich gegenüber dem Spiegel überraschend deutlich: „Das ist keine Reform, das ist eine Zerstörung.“
Es gibt in diesem Konflikt zwei Seiten: Einerseits die große Mehrheit der mehr als 10.000 polnischen Richter und vor allem die „alten“ Kammern des Obersten Gerichts, die es schon vor 2015 gab und die von der Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf geleitet werden. Auf der anderen Seite die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość - PiS), die 2015 in die Regierung gewählt wurde, 2019 erneut die Wahlen gewann und mittlerweile das Verfassungsgericht, die neu geschaffenen Kammern des Obersten Gerichts und den umgekrempelte Justizrat kontrolliert.
Abgesehen von vielen fragwürdigen juristischen Winkelzügen, hat die PiS auch in ihren öffentlichen Erklärungen nie den Eindruck erweckt, als ginge es um eine sachorientierte Reform. Der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, beschwert sich schon lange über “juristischen Impossibilismus”, die Tatsache also, dass die dritte Gewalt der Exekutive Grenzen setzten kann. Derzeit strahlt das staatliche Fernsehen zur besten Sendezeit eine wöchentliche Fernseh-"Dokumentation" mit dem Titel "Kasta" ("Die Kaste") aus, in der die Qualität der Richter in Polen in Frage gestellt und angebliche Vergehen angeprangert werden – staatliche Propaganda gegen die Justiz.
Oberstes Gericht erkennt neue Kammer nicht an
Normalerweise sollten das Oberste Gericht und das Verfassungsgericht für Rechtssicherheit sorgen, aber in Polen ist das zunehmend unmöglich. Es ist fraglich, ob das Verfassungsgericht die Kriterien des EuGH für ein unabhängiges Gericht erfüllt. Nachdem sie die Wahlen gewonnen hatte, übernahm die PiS innerhalb weniger Monate die Kontrolle über das Gericht.
Durch fragwürdige juristische Schritte benannte die PiS zahlreiche Richter des Verfassungsgerichts und setzte Julia Przyłębska als Präsidentin ein, die seitdem ihre Loyalität mit der Regierungspartei unter Beweis gestellt hat. Die von früheren Parlamentsmehrheiten ernannten Richter wurden marginalisiert, für die Regierungspartei unbequeme Fälle wurden zurückgestellt. Das Gericht wird immer seltener angerufen, weil es zunehmend als Instrument der Regierungspartei wahrgenommen wird.
Das neue Kapitel des Konflikts begann mit einem EuGH-Urteil vom November vergangenen Jahres. Die Luxemburger Richter entschieden, dass nationale Gerichte berechtigt sind, den Status von Richtern und Gerichten zu überprüfen, falls es Zweifel an ihrer Unabhängigkeit oder Integrität gibt (Urt. v. Urt. v. 19.11.2019, Az. C-585/18 u.a.) Daraufhin entschieden am 5. Dezember die "alten" Kammern des Obersten Gerichts, dass die "neue" Disziplinarkammer desselben Gerichts die Kriterien eines unabhängigen Gerichts nicht erfülle – weder nach polnischem Verfassungsrecht noch nach EU-Recht.
Neue Kammer wendet sich an das Verfassungsgericht
Die Reaktion der Regierung war zunächst unklar. Der Justizminister (und gleichzeitig Generalstaatsanwalt) Zbigniew Ziobro, der als Drahtzieher des Angriffs auf die Justiz angesehen wird, erklärte, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts nicht existiere und null und nichtig sei. Premierminister Mateusz Morawiecki widersprach ihm und erklärte, dass die Entscheidung vor dem Verfassungsgericht angefochten werde.
Das bevorstehende Verfahren vor dem Verfassungsgericht wurde von der "neuen" Disziplinarkammer des Obersten Gerichts angestoßen. Die Kammer legte die Frage vor, ob das polnische Recht es erlaube, einen Richter abzulehnen, weil er vom Präsidenten auf Vorschlag des Nationalen Justizrats unrechtmäßig ernannt wurde. Das Verfassungsgericht, das in den letzten fünf Jahren viele Fälle regelrecht auf Eis gelegt hat, handelte in diesem Falle rasch.
In einer ausführliche Stellungnahme behauptet Ziobro, weder die polnische Verfassung noch das Völkerrecht sähen ein solches Infragestellen eines Richters vor. Das Verfassungsgericht holte keine weiteren Stellungnahmen ein und ignorierte die Anträge des polnischen Ombudsmanns für Bürgerrechte Adam Bodnar, der zu dem Fall Stellung beziehen wollte.
Eskalation oder Zurückhaltung vor den Präsidentschaftswahlen?
Angesichts der Art und Weise, wie die PiS das Gericht übernommen hat, wäre es überraschend, wenn rechtliche Erwägungen die Entscheidung prägen würden. Wahrscheinlicher ist, dass der starke Mann hinter der Regierung, Kaczyński, darüber entscheiden wird, ob die Krise eskaliert oder nicht. Bisher scheint beides möglich.
Lässt es die PiS auf eine Eskalation ankommen, könnte das Gericht entscheiden, dass der Status eines Richters in dieser Form nicht in Frage gestellt werden kann. Es würde sich damit gegen den EuGH stellen. Es ist auch möglich, dass polnische Gerichte dem EuGH die Frage vorlegen würden, ob das polnische Verfassungsgericht als unabhängiges Gericht angesehen werden kann.
Falls die Regierungspartei den Konflikt mit den europäischen Partnern scheut – immerhin finden im Mai in Polen Präsidentschaftswahlen statt und die meisten Polen sind pro-europäisch eingestellt – scheint jedoch auch möglich, dass das Verfassungsgericht der Argumentation der Disziplinarkammer nicht folgt und erklärt, dass der Status der neu ernannten Richter angefochten werden kann.
Die Regierung erhöht in jedem Fall den Druck
Auch wenn die Regierungspartei und das Verfassungsgericht hier klein beigeben würden: Das wäre nicht das Ende der Krise, sondern nur ein taktischer Rückzug. Die Regierung hat bereits den Druck auf die einfachen Richter erhöht, wenn sie versuchen sollten, den Status neuer Richter in Frage zu stellen und die Entscheidungen des EuGH und der "alten" Kammern des Obersten Gerichts umzusetzen. Kritische Richter wurden schon mit Disziplinarstrafen belegt oder auf andere Weise bestraft, zum Beispiel in dem sie von heute auf morgen an ein anderes Gericht versetzt wurden.
Darüber hinaus hat Präsident Duda kürzlich ein neues Gesetz in Kraft gesetzt, das es Richtern verbietet, sich politisch zu äußern und die Legalität anderer Staatsorgane in Frage zu stellen. Das sogenannte Maulkorb-Gesetz wurde nicht nur von polnischen Juristen heftig kritisiert, sondern auch von der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats.
Die PiS wird ihren Abnutzungskampf gegen die unabhängige Justiz weiterführen. Die Rechtssicherheit wird in Polen immer mehr in Frage gestellt. Das ist nicht nur für die polnische Demokratie ein Problem. Die Entwicklungen gefährden auch die juristische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Gerichte in anderen EU-Ländern werden sich fragen, ob sie polnischen Gerichtsurteilen weiterhin anerkennen können. Die PiS fügt dem Land damit einen schweren Schaden zu, aber eine Kursänderung ist nicht zu erwarten.
Jakub Jaraczewski ist Legal Officer bei Democracy Reporting International. Er arbeitet in dem Projekt re:constitution, das von der Stiftung Mercator unterstützt wird.
Streit um Unabhängigkeit der Justiz spitzt sich zu: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40259 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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