Seit einer Woche ist das Urteil im NSU-Prozess fertig. Bisher liegen die 3.025 Seiten aber nur Beteiligten und wenigen Journalisten vor. Was das OLG veröffentlichen muss, für wen und warum das noch dauern dürfte, erklärt Martin W. Huff.
Das Urteil des 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) München ist ohne Zweifel ein zeitgeschichtliches Dokument. Und es ist umfangreich, 3025 Seiten, also gut sechs Leitzordner umfasst die Entscheidung.
Am 21. April 2020 – dem Tag, an dem die Gründe noch innerhalb der Frist für ihre Abfassung auf der Geschäftsstelle eingingen – gab es nur zunächst nur ein Exemplar des Urteils, nämlich das von den Richtern unterschriebene Original. Im nächsten Schritt muss die Geschäftsstelle des OLG Ausfertigungen für die Prozessbeteiligten erstellen. Geschätzt 200 Exemplare für die Angeklagten, ihre Verteidiger, die Staatsanwaltschaft, die Nebenkläger und ihre Anwälte sind herzustellen - auch für die Kopiergeräte des OLG ein Kraftakt.
Zwar wäre es möglich, das Urteil an sie ausschließlich elektronisch zu versenden, aber in der Regel werden noch Papierfassungen erstellt. Diese Fassungen der Gründe für die Verfahrensbeteiligten sind selbstverständlich nicht anonymisiert, sondern vollständig. Der Versand ist im Gange, einigen Medien, u.a. LTO, liegt zwischenzeitlich eine Kopie der Gründe vor. Vom Gericht kommt diese nicht. Und vom Gericht hatten, Stand Mittwoch, auch die Nebenklagevertreter die Urteilsgründe noch nicht erhalten.
Denn obwohl beim Oberlandesgericht zahlreiche Anfragen von Medienvertretern und sonstigen Interessierten eingehen, gibt es noch keine endgültige Aussage, wie und wann eine Veröffentlichung genau stattfindet. Dass das OLG München die Anfragen von Medienvertreten ablehnen wird, ist bei der klaren Rechtslage kaum vorstellbar, auch wenn es darüber offenbar einige Missverständnisse gab. Nicht so eindeutig ist, ob das Gericht die Urteilsgründe auch an andere Interessierte auf Anfrage herausgeben oder gar in einschlägigen juristischen Datenbanken publizieren muss.
Medien haben Anspruch auf die Urteilsgründe
Wenn ein Medium, egal ob Print, Hörfunk oder online, die Gründe haben möchte, dann hat es nach den Regelungen des bayerischen Pressegesetzes (Art. 4) und des Rundfunkstaatsvertrags (§ 9a) einen Anspruch auf Überlassung einer anonymisierten Abschrift.
Dabei steht der Anspruch dem Medium als Träger des Grundrechts aus Art. 5 Grundgesetz zu, er kann auf einen Mitarbeiter übertragen werden. Der Anspruch steht nicht jedem zu, der sich Redakteur oder Journalist nennt, es handelt sich nicht um geschützte Berufsbezeichnungen. Vielmehr existiert er nur abgeleitet vom Arbeitgeber bzw. bei freien Journalisten vom Auftraggeber. Die Medieneigenschaft muss gegenüber dem OLG München nachgewiesen werden. Nicht jeder, der einmal etwas über den NSU-Prozess schreiben möchte, ist anspruchsberechtigt.
Diesen Anspruch der Medien haben das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das Bundesverwaltungsgericht und auch der Bundesgerichtshof immer wieder bestätigt. Zuletzt hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 13. September 2015 (Az. 1 BvR 857/15) klargestellt, dass das Handelsblatt einen Anspruch auf eine anonymisierte Kopie eines nicht rechtskräftigen Strafurteils des LG Meinigen hatte, den das Landgericht zunächst nicht übersenden wollte.
Diesen Anspruch leiteten die Karlsruher Richter im wesentlichen aus der Funktion von Gerichtsentscheidungen her. Der Bürger habe, über die Medien, einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie die Gerichte entscheiden. Dieser Anspruch besteht, so das BVerfG, eindeutig auch schon vor Rechtskraft der Entscheidung. Die Medien haben ein Recht darauf, zeitnah über ergangene Entscheidungen unterrichtet zu werden und berichten zu können.
Anonymisierte Fassung: Was das bedeutet
Der Anspruch der Medien besteht allerdings nur auf eine anonymisierte Kopie. Diese muss jetzt die Verwaltung des OLG München anfertigen. Die Übersendung an die Medien ist eine Verwaltungsaufgabe des Gerichts und keine Tätigkeit in Bezug auf die Rechtsprechung.
Die Pressestelle des OLG München, also der Pressesprecher und seine beiden Stellvertreterinnen, werden sich hinsetzen, die 3025 Seiten durcharbeiten und prüfen müssen, wo Anonymisierungen durchzuführen sind. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, um die sie nicht zu beneiden sind.
So ist die Frage zu klären, ob die Namen der Angeklagten – obwohl allgemein bekannt – stehen bleiben. Bei Beate Zschäpe wäre dies, weil sie die "Hauptangeklagte" war und ihr Namen auf Dauer mit diesem Prozess verbunden ist, zulässig. Aber auch eine Anonymisierung wäre erlaubt. Schon bei Ralf Wohlleben ist das unter Umständen nicht ganz einfach zu klären, auch wenn es über ihn einen eigenen Wikipedia-Eintrag gibt. Denn das Gericht muss die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen beachten, auch im Hinblick darauf, dass diese Urteilsfassung auf Dauer erhalten bleiben und darauf Bezug genommen werden wird.
So ist besondere Rücksicht auf den erfolgten Freispruch zu nehmen, aber auch bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafen spielt der Resozialisierungsaspekt bei den Verurteilten eine erhebliche Rolle. Zwar dürfen und müssen die Medien selber prüfen, ob sie vorgenommene Anonymisierungen nach den Grundsätzen der presserechtlichen Sorgfalt bei ihrer Berichterstattung wieder "auflösen", aber die erste Verantwortung trägt das Gericht.
Richter haben kein Mitspracherecht
Desweiteren muss dann geprüft werden, welche persönlichen Angaben der Beteiligten für das Verständnis der Entscheidung des Gerichts erforderlich sind und welche nicht. Nicht jedes Detail aus ihrer Lebensgeschichte, die in der Verhandlung erörtert und in den Gründen dokumentiert wird, darf stehen bleiben.
Auch müssen die Namen von Zeugen anonymisiert werden, aber der jeweilige Sachzusammenhang der Aussage aber erkennbar und die Zuordnung erhalten bleiben. Es gibt immer wieder anonymisierte Gerichtsentscheidungen, bei denen das durcheinandergeht.
Die Pressestelle des OLG München steht vor einer Herkules-Aufgabe, die nicht einfach zu bewältigen ist. Es dürfte also etwas dauern, bis es eine "Veröffentlichungsfassung" der Entscheidungsgründe geben wird, die das Gericht offiziell den Medien zur Verfügung stellen muss und sicherlich auch wird. Es handelt sich wie gesagt um eine reine Verwaltungsaufgabe der Gerichte, in welche die Verfahrensbeteiligten, vom Richter bis zum Rechtsanwalt, nicht einbezogen sind. Sie sind auch vorher nicht anzuhören.
So haben auch die beteiligten Richter kein Mitspracherecht bei der Frage, ob und wie die Gründe veröffentlicht werden, auch wenn manche von ihnen das womöglich anders sehen. Die Anhörung der Beteiligten wäre zudem eine für die Medien unzumutbare Verzögerung bei der Erfüllung des ihnen zustehenden Anspruchs. Viel spricht für eine Versendung nur als pdf-Dokument. Sonst kämen unter Umständen erhebliche Kopierkosten auf die Medien zu, was für beide Seiten sinnlos ist.
Das OLG München dürfte auch eine zusammenfassende Medieninformation zu den wesentlichen Argumenten des 6. Strafsenats formulieren. Sinnvoll wäre das bei dem Umfang des Urteils und der sich jetzt schon abzeichnenden unterschiedlichen Bewertung der Gründe in diesem Fall aber wohl nicht.
Zudem sind die Medien dann auch berechtigt, die ihnen übermittelte Entscheidung im Volltext oder in Auszügen in ihren Produkten, z.B. Fachzeitschriften und in ihren Datenbanken zu veröffentlichen. Dies ist vom Zweck der Veröffentlichung durch die Medien umfasst, denn auch bei einer Volltextveröffentlichung sind die entsprechenden Sorgfaltspflichten einzuhalten. Ein Verbot der Veröffentlichung wäre bei der eindeutigen BVerfG-Rechtsprechung nicht haltbar.
Kann jeder das Urteil kriegen?
Auch viele interessierte Dritte dürften beim OLG München eine Übersendung der Entscheidungsgründe beantragen. Hier ist die Rechtslage anders als bei den Ansprüchen der Medien.
Bei einer Entscheidung eines Zivilgerichts besteht bei einem berechtigen Interesse ein weitgefasster Anspruch auf eine anonymisierte Abschrift, wie der IV. Zivilsenat des BGH vor einiger Zeit entschieden hat. Für Strafurteile sieht der 5. Strafsenat des BGH das aber enger und würde auf jeden Fall ein dezidiert begründetes berechtigtes Interesse an der Übersendung verlangen. Zuvor wäre wohl den Beteiligten, was aber bisher nicht ausdrücklich entschieden ist, ein Anhörungsrecht zu gewähren.
Wenn die Beteiligten zustimmen, wäre eine Veröffentlichung auch in allgemein zugänglichen Datenbanken möglich.
Allerdings sollte das Gericht nach der Veröffentlichung der Gründe für die Medien überlegen, das Urteil aufgrund seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung in die verschiedenen Datenbanken der bayerischen Justiz einzustellen. Dann wären aber noch mehr als in der Fassung für die Medien - die Persönlichkeitsrechte zu beachten. Eine solche Fassung der Gründe würde schließlich lange zur Verfügung stehen.
Der Autor Martin W. Huff ist Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR und bildet seit Jahren Pressesprecher der Justiz u.a. in der Deutschen Richterakademie aus.
Urteilsgründe gegen Zschäpe & Co.: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41455 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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