Eine Klageflut macht der Justiz seit Jahren zu schaffen, mit Sorge blickt das Landesjustizministerium auf die Arbeitsbelastung der Gerichte, die massiv zunimmt. Nun gibt es erste Lösungsansätze.
Das baden-württembergische Justizministerium blickt mit Sorge auf die Zunahme der Klagen im Zuge des Dieselskandals oder in Kapitalanlagefällen. Ein Sprecher sagte in Stuttgart, solche Massenverfahren führten insbesondere bei den Landgerichten als Eingangsinstanz und den Oberlandesgerichten als Rechtsmittelinstanz zu erheblichen Belastungen.
Der Präsident des Landgerichts (LG) Stuttgart, Andreas Singer, sagte hierzu: "Zur Bewältigung der Klageflut ist eine Reform des kollektiven Rechtsschutzes unumgänglich." Aktuell seien mehr als 15.000 Diesel-Klagen gegen VW und Daimler anhängig, so Singer weiter. "Unsere Ressourcen sind auf diese Massenklagen nicht ausgerichtet", konstatierte Singer. Als möglichen Lösungsweg sieht er mehr Personal. Auch warnte er vor überlangen Verfahren, denn hierdurch werde das Vertrauen in den Rechtsstaat gefährdet.
Die Neue Richtervereinigung warnte hingegen davor, "die Justiz einfach mit immer mehr Personal aufzublähen oder durch immer neue Aufgaben zu belasten". Die Lösungen lägen nicht in der Hand des Justizministeriums in Baden-Württemberg. Es könne aber immerhin durch entsprechende Gesetzesinitiativen über den Bundesrat versuchen, Einfluss zu nehmen.
Zahlreiche Individualklagen statt Musterfeststellungsklage
Ein tragfähiger Ansatz zur Koordinierung von Massenverfahren könnte die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens sein, wie ein Sprecher des Ministeriums weiter mitteilte. Die Justizministerkonferenz hatte sich bereits im Juni dafür ausgesprochen. Ziel sei es, mit der Einführung eines Vorlageverfahrens zum Bundesgerichtshof oder einer vergleichbaren Lösung die Instanzgerichte insbesondere in Massenverfahren zu entlasten. Es solle eine vergleichsweise zügige höchstrichterliche Vorabentscheidung über grundsätzliche Rechtsfragen mit Bedeutung für eine Vielzahl von Einzelfällen herbeigeführt werden. Eine Arbeitsgruppe solle dies nun prüfen und eventuell konkrete Vorschläge ausarbeiten.
Im Jahr 2018 wurde die Musterfeststellungsklage eingeführt. Verbraucher sollen es damit leichter haben, ihre Rechte durchzusetzen. Singer sieht hierin jedoch nicht die Lösung. So habe die Anwaltschaft trotz des vor dem Oberlandesgericht Braunschweig geführten Musterfeststellungsverfahrens gegen VW den rechtsschutzversicherten Klägerinnen und Klägern weiterhin eine Individualklage nahegelegt. "Solange die Individualklage attraktiver als der Anschluss an eine Sammelklage ist, kann die Justiz Massenklagen nicht kanalisiert und strukturiert abarbeiten", prognostiziert der Landgerichtspräsident.
Singer forderte weiterhin, dass Ressourcen geschont werden, indem die Instanzgerichte anhängige Indiviudalklagen bis zur höchstrichterlichen Klärung auszusetzen können. Andernfalls würden Ressourcen "verbrannt", so Singer.
Hoher Belastungsanstieg auch in Strafsachen
"Beim Landgericht Stuttgart verzeichnen wir im ersten Halbjahr 2021 einen starken Anstieg der Verfahren vor den Allgemeinen Strafkammern um 71 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Diese Entwicklung ist maßgeblich auf zahlreiche Anklagen gegen die organisierte Kriminalität zurückzuführen", berichtete Singer. Hierzu gehören auch Verfahren im Zusammenhang mit EncroChat, wobei hier die Verwertbarkeit der Daten sehr umstritten ist. Auch gebe es zunehmend Verfahren mit erhöhtem Sicherungsbedarf, etwa im Zusammenhang mit "Querdenkern", so Singer weiter.
jb/LTO-Redaktion/dpa
Justizministerium Baden-Württemberg: . In: Legal Tribune Online, 13.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45730 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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