"Sie sind so dagegen" – die diesjährige Legal Evolution zeigt, dass die noch junge Legal-Tech-Szene nicht versteht, dass die Digitalisierung der Justiz mehr ist als die Abbildung standardisierbarer Sachverhalte in Wenn-Dann-Bäumen.
Wenn man weiß, wie Justizangehörige arbeiten und womit sie täglich arbeiten müssen, dann waren die Teilnehmer am Justiz-Panel "Digitalisierung an deutschen Gerichten" bei der Legal Evolution am Dienstag in Darmstadt höchst aufgeschlossene Vertreter ihrer Zunft.
Vier Gerichtschefs saßen dort, darunter langjährig erfahrene Verwaltungsjuristen, die weit über den Tellerrand des richterlichen Schreibtischs geblickt haben. Dr. Ralf Köbler war vor seiner Zeit als Präsident des LG Darmstadt jahrelang im hessischen Justizministerium zuständig für den Elektronischen Rechtsverkehr (ERV), der OLG-Präsident Dr. Thomas Dickert verantwortete zuvor sieben Jahre lang im bayerischen Justizministerium u.a. die IT.
Wie auch die LG-Präsidenten von Köln und Frankfurt am Main, die sehr große Justizeinheiten leiten, fürchten sie, dass die Einführung der Elektronischen Akte nicht rechtzeitig zum Start valide und zu 100 Prozent zuverlässig funktionieren wird. Nicht nur, weil sie aus einer Welt kommen, in der Informationen in Form von Aktenbergen auf Rollwagen über Flure geschoben und auf dem Postweg in großen Paketen an Anwälte verschickt werden. Sondern weil sie, so Dr. Wilhelm Wolf vom LG Frankfurt a.M., den Bürgern Rechtsschutz schulden.
Er ist derjenige, der am Dienstag in Darmstadt sagte, was man von einem Richter am ehesten erwartet, wenn er einräumt, grundsätzlich skeptisch zu sein: "Mich muss man erst überzeugen, dass es mit hoher Validität funktioniert, bevor ich das auch den Richtern, v.a. aber der rechtssuchenden Bevölkerung zumute." Seine Amtskollegen zeigten sich indes um einiges offener, doch auch sie wurden von den Legal-Techies damit nicht gehört.
Was Justizkommunikation können könnte
LG-Chef Köbler aus Darmstadt schwärmte geradezu von der E-Akte ("E-Akten schimmeln nicht") und zeigte auf, dass selbst Features für richterliche Notizen, die der Anwalt bei der Akteneinsicht nicht sehen kann, schon vorgesehen sind.
Köbler und der Kölner LG-Präsident Roland Ketterle sahen sich geeint in der Befürchtung, dass selbst eine funktionierende flächendeckende Einführung der E-Akte viele Ressourcen in der Justiz weiterhin ungenutzt lassen und viel zu früh stehen bleiben würde. Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation würden nicht ansatzweise ausgeschöpft, erläuterte Köbler, und forderte, was außerhalb der Justiz auch in Deutschland längst Standard ist: Pushdienste, die Mitteilungen über Termine, Veränderungen und wesentliches neues Verfahrensgeschehen auf die Mobilgeräte aller Verfahrensbeteiligten schicken.
Die Möglichkeit, Informationen automatisch in den Anwaltskalender einzutragen, und die Verfahrensbeteiligten elektronisch über den Tenor einer Entscheidung zu benachrichtigen, würde dem Gerichtspersonal zahlreiche Telefonate ersparen. Köbler wünschte sich auch die automatisierte Erstellung von Gerichtskostenrechnungen sowie die Möglichkeit, elektronisch zu bezahlen. "In den USA funktioniert das per Paypal!", begeisterte sich der Darmstädter Gerichtspräsident.
Eine umfassende Reform der Kommunikation in der Justiz könnte zudem eine Forderung aus der Richterschaft aufgreifen, die auch bei sonst wenig digitalaffinen Richtern auf Zustimmung stößt: der strukturierte Parteivortrag. Wenn Anwälte ihre Schriftsätze per Webformular eingeben würden, das der Richter sich später als Relationstabelle anzeigen lassen könnte, die das klägerische Vorbringen und den Beklagtenvortrags nebeneinander darstellt, liegt die Zeitersparnis in der Justiz auf der Hand – auch wenn man annehmen darf, dass die Forderung in der Anwaltschaft vermutlich auf ein eher geteiltes Echo treffen würde.
Wenn man schon für schnellere Pferde dankbar wäre
Wohlgemerkt: Das sind Wünsche, fast Visionen, die Köbler da aufzeigt. Nicht etwa Pläne oder zumindest nach hinten priorisierte Ausbaustufen der geplanten E-Akte.
Die Legal-Techies verstehen das indes nicht. Das fast unweigerlich in fast jedem Gespräch über Möglichkeiten der Digitalisierung fallende Zitat von Henry Ford, dem Erfinder des Autos, lässt auch aus dem Auditorium bei der Legal Evolution nicht lange auf sich warten: "Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde." Dabei ist das den Diskutanten auf dem Podium durchaus bewusst. OLG-Präsident Dickert räumt ein, dass viele Richter nicht gerade fortschrittlich sind. "Die meisten Kollegen wünschen sich nur - und nehmen auch nur an -, was sie aus der Papierakte kennen".
Von LG-Chef Köbler kann man das nicht behaupten. Er hat am Dienstag in Darmstadt seine Ideen von ganz anderen Kommunikationsmodellen vorgestellt, die weg wollen vom bloß schnelleren Pferd: weg vom Staat als zentralem und einzigem Kommunikationsdienstleister hin zu einer Landschaft aus mehreren privaten Anbietern. Dokumente nicht mehr versenden, sondern in die Cloud legen und mit Anwälten teilen; ein elektronisches Empfangsbekenntnis mit einem strukturierten Datensatz.
In einer Welt, in der elektronische Kommunikation von über 165.000 Rechtsanwälten zentral in der Hand der Bundesrechtsanwaltskammer liegt, die noch nie ein IT-Projekt gesteuert hat, sind diese Ideen wirklich neu. In einer Welt, in der sich viele Gerichte noch fragen, wie sie eigentlich künftig den Posteingang organisieren sollen, sind sie revolutionär. Und das nicht nur, weil Richter konservativ sind, Veränderungen skeptisch gegenüberstehen und gern mal das scharfe Schwert der richterlichen Unabhängigkeit zücken, wenn sie Eingriffe in ihre Arbeitsweise fürchten. Sondern auch, weil vom Zeitpunkt des Posteingangs an manchen Gerichten die Zuständigkeit des Richters abhängt – und die Justiz damit immerhin der verfassungsrechtlichen Vorgabe des gesetzlichen Richters Rechnung trägt.
Die falschen Fragen
Die Legal-Tech-Community scheint das nicht verstehen zu wollen. "Sie sind so dagegen", monierte ein junger Mann, der sich als CTO eines Legal-Tech-Startups vorstellte. Schließlich sei, wo ein Wille ist, auch ein Weg. Ein anderer Zuhörer wies ("mit Verlaub") auf den Generationenunterschied hin und ein dritter fragte, um einen konstruktiven Ansatz offenbar bemüht, wie ein Prozess aussehen müsste, damit die Justiz ihn umsetzen kann. Er meinte damit ersichtlich einen technischen Prozess wie die Implementierung neuer Software.
Die Richter auf dem Podium lächeln, wenn sie solche Fragen hören. Nachsichtig, freundlich gar. Keiner von ihnen wehrt sich dagegen, dass bestimmte Rechtsfragen künftig von Algorithmen bearbeitet werden können, im Gegenteil: OLG-Chef Dickert würde sich, in einer perfekten Welt, eine "Siri oder Alexa" auf seinem Schreibtisch wünschen, die ihm seine Rechtsfragen beantwortet. "Automatisierbare Rechtsmaterie" nennt er standardisierbare Sachverhalte wie Flugverspätungen, "bei denen es bloß um ein Ergebnis geht". Die Richter wünschen sich ausdrücklich Unterstützung durch Digitalisierung, so die allgemeine Meinung auf dem Podium.
Die unvermeidlichen Fragen der Legal-Tech-Community nach der Standardisierbarkeit von Rechtsprozessen und – am Ende der Kette – dem "Robojudge" sind nicht die Fragen, die die Justiz umtreiben. Große Prozesse, Bauschäden, Insolvenzen oder andere Wirtschaftssachen, alles, was die Einordnung komplexer Information betrifft, das werde in absehbarer Zeit keine Software übernehmen. Und auch, wo es um Emotionen geht, sind die Richter sich ihrer wie auch der anwaltlichen Existenzberechtigung weiterhin sicher: "Menschen schenken Menschen Vertrauen, nicht Maschinen", sagt Dickert. An dieser Stelle widerspricht niemand im Saal.
Aus Sicht der Richter hapert es an ganz anderen Stellen. Es bräuchte als Minimalbedingung eine "Rechtsklausel", die neue Kommunikationsarten überhaupt zulässt, erklärt OLG-Chef Dickert aus Nürnberg. "Es fehlt völlig am großen Wurf einer digitalen Prozessordnung." Die drei anderen würden sich, in einer idealen Welt, eine flächendeckend funktionierende E-Akte wünschen. Auch dem Legal-Tech-Begeistertstem im Saal wird am Dienstag zum Schluss des Panels "Digitalisierung der Justiz" deutlich, dass Digitalisierung der Justiz nicht bedeutet, standardisierbare Sachverhalte in Wenn-Dann-Bäumen abzubilden.
Visionär Köbler würde sich, in einer anderen, idealen Welt, wünschen, dass es genug Budget und die Zeit gäbe, Strukturen neu zu schaffen. Und dass alle zusammenkämen, um herauszufinden, welche Teile der Gesetze und welche Rechtsstreitigkeiten geeignet sind, um sie mit Technik zu lösen. Stattdessen sagte der Chef des LG Darmstadt: "Unser Zweckpessimismus gründet darauf, dass wir schon lange im Öffentlichen Dienst sind." Es klang nur halb wie ein Scherz.
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Digitalisierung der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 05.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32541 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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