Die Hauptverhandlung im Strafverfahren soll in Bild und Ton aufgezeichnet werden – bis 2030 müssen die Gerichte so weit sein. Bundesjustizminister Buschmann hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Eine Hauptverhandlung, die erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht (OLG) oder dem Landgericht (LG) stattfindet, muss in Zukunft in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Das sieht ein Gesetzentwurf vor, den Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann (FDP) derzeit mit den anderen Ressorts abstimmt.
Hinter dem sperrigen Namen "Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz" verbirgt sich damit eine Revolution des deutschen Strafverfahrens – allerdings eine mit Ankündigung. Seit Jahrzehnten wurde über die Aufzeichnung der Hauptverhandlung gestritten, in den letzten Jahren zeichnete sich ab, dass sie früher oder später auch in Deutschland eingeführt wird, in vielen europäischen Ländern ist sie bereits Standard. SPD, FDP und Grüne hatten sich im Koalitionsvertrag auf eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung geeinigt. Nun können die Länder die Aufzeichnung zunächst freiwillig und schrittweise einführen, bevor sie ab dem 1. Januar 2030 bundesweit verbindlich gelten soll.
Die gesamte Hauptverhandlung soll in Bild und Ton aufgezeichnet werden, die Tonaufzeichnung zudem mittels einer Transkriptionssoftware automatisiert in ein Textdokument übertragen werden. Rund 600 Gerichtssäle müssen dafür mit der entsprechenden Technik ausgestattet werden. Das Bundesjustizministerium rechnet mit Kosten in Höhe von 25.850 bis 31.500 Euro pro Gerichtssaal. Hinzu würden einmalige Entwicklungskosten in Höhe von rund 2 Millionen Euro und jährliche Wartungskosten in Höhe von rund vier Millionen Euro kommen, schätzt das Bundesjustizministerium.
Das Protokoll bleibt, die Aufzeichnung kommt dazu
Die Aufzeichnung und das Transkript sollen den Verfahrensbeteiligten unverzüglich – möglichst noch am Tag der Verhandlung – zur Verfügung gestellt werden. Die Hauptverhandlung wird also künftig umfassend dokumentiert. Bisher sind alle Beteiligten darauf angewiesen, sich eigene Notizen zu machen, einschließlich der Richterinnen und Richter.
Dieses anachronistische Verfahren wurde vor allem von Strafverteidigerseite seit langem kritisiert. In der Justiz gab es jedoch zahlreiche Bedenken: Würde die Bild und Ton-Aufzeichnung die Verfahrensbeteiligten einschüchtern? Hält fehlerhafte Technik künftig den gesamten Strafprozess auf? Werden Videoaufnahmen aus dem Gerichtssaal an die Öffentlichkeit durchgestochen? Wie soll das Gericht die Fülle der Informationen verarbeiten? Und wie wirkt sich die umfangreiche Dokumentation auf die Revisionsverfahren aus?
Der Gesetzentwurf versucht zahlreiche dieser Bedenken abzuräumen, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Für die konkrete Umsetzung seien schließlich die Länder zuständig. Die neuen Regelungen in §§ 271 – 274 Strafprozessordnung (StPO) schaffen aber eine Rechtsgrundlage für die audiovisuelle Aufzeichnung und legen wesentliche Anforderungen an die digitale Dokumentation fest.
Auch in Zukunft wird ein Protokoll der Hauptverhandlung erstellt, in dem die wesentlichen Förmlichkeiten festgehalten werden. Bisher steht dort etwas wie: "Der Angeklagte sagte zur Sache aus." Dabei soll es bleiben. Die Aufzeichnung und das Transkript sollen das Protokoll nur ergänzen und selbst keinen Protokollcharakter haben. Die Hauptfunktion der audiovisuellen Dokumentation sei den Verfahrensbeteiligten ein "verlässliches, objektives und einheitliches Hilfsmittel für die Aufbereitung des Hauptverhandlungsgeschehens" zur Verfügung zu stellen. Die Idee ist also, dass sich künftig alle Verfahrensbeteiligten auf das Geschehen im Gerichtssaal konzentrieren können – und sie zugleich eine präzise Grundlage erhalten, um Vorhalte, Plädoyers oder das Urteil vorzubereiten.
Eine ausdrückliche Regelung für den Umgang mit der Aufzeichnung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung im Revisionsverfahren trifft der Gesetzentwurf nicht. Stattdessen sollen die bisherigen, vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geprägten Grundsätze weiterhin gelten. In der Revisionsinstanz werden die zugrundeliegenden Tatsachen nicht überprüft, eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist nicht vorgesehen. Die audiovisuelle Aufzeichnung könnte aber dazu beitragen, dass sich die Beteiligten künftig zumindest darüber einig sind, was in der Hauptverhandlung tatsächlich gesagt wurde – und das Urteil sich tatsächlich damit auseinandersetzt. Wenn gar nicht erst der Eindruck entsteht, dass der Richter womöglich Aussagen schlicht überhört hat oder gerade wesentliche Punkte nicht notiert, dann kann das auch zur Akzeptanz von Entscheidungen beitragen.
Durchsuchbares Textdokument, nicht nur Videomaterial
Für die Justiz war besonders wichtig, dass zwingend eine automatisierte Transkription vorgesehen ist – alle Richterinnen und Richter sind es gewohnt mit umfangreichen Textdokumenten zu arbeiten und müssen also auch in Zukunft nicht stundenlang Videoaufnahmen durchsuchen. Hier wird es allerdings vor allem darauf ankommen, dass die Länder eine Lösung finden, die das technisch zuverlässig umsetzt.
Mit gutem Beispiel vorangehen sollen die Staatsschutzsenate – wenn der Generalbundesanwalt, etwa bei Terrorismusverfahren, dort in erster Instanz eine Anklage erhebt, üben sie die Gerichtsbarkeit des Bundes aus. Dort will der Bund gemeinsam mit den Ländern spätestens 2025 die neue Technik testen und ab 2026 die Hauptverhandlungen audiovisuell aufzeichnen.
Außerdem sieht der Gesetzentwurf Regelungen vor, um zu verhindern, dass die Aufnahmen missbraucht werden. So könnten Zeuginnen und Zeugen, die nicht identifiziert werden sollen, verpixelt werden, auch der Zuschauerbereich des Gerichtssaals soll nicht gezeigt werden. Die Aufzeichnung wird nur dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und den Anwälten zur Verfügung gestellt – der Angeklagte selbst darf die Aufzeichnung lediglich einsehen. Der Gesetzentwurf sieht auch vor, in § 353d Strafgesetzbuch einen neuen Tatbestand als Nummer 4 zu ergänzen, sodass sich strafbar macht, wer eine Bild-Ton-Aufzeichnung einer Hauptverhandlung oder die Aufzeichnung einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren an die Öffentlichkeit weitergibt. Die Aufzeichnung wird gelöscht, wenn das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen oder sonst beendet ist. Das Transkript bleibt in der Akte bis zum Ende der Aktenaufbewahrungsfrist.
Strafverteidiger: "Zentrale Forderung der Anwaltschaft erfüllt"
Der Gesetzentwurf soll nach der Abstimmung in den Ressorts voraussichtlich Anfang kommender Woche den Ländern und Verbänden zugehen, die dann dazu Stellung nehmen können. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßte gegenüber LTO das Vorhaben des Bundesjustizministers bereits. Der Gesetzentwurf realisiere "eine zentrale Forderung des Deutschen Anwaltvereins, anderer Verbände und der herrschenden Meinung in der Prozessrechtswissenschaft und ermöglicht endlich eine Aufzeichnung der Hauptverhandlung, die dem heutigen Stand der Technik entspricht", so Rechtsanwalt Prof. Dr. Ali B. Norouzi, der Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV ist.
"Für Gericht und Verfahrensbeteiligte gibt es somit eine objektive Quelle über Inhalt und Gang der Beweisaufnahme, kognitive Verzerrungen werden als Fehlerquelle verringert und mögliche Verfahrensfehler können in der Revision noch verlässlicher gerügt und geprüft werden," sagt Norouzi weiter. Der DAV will kleinere Änderungen fordern, etwa bei den Löschungsfristen, Norouzi sieht aber insgesamt "nicht weniger als eine kopernikanische Wende für die inhaltliche Dokumentation der Hauptverhandlung".
Überraschend kommt diese Wende nicht. Auch die Justiz hat ihren grundsätzlichen Widerstand längst aufgegeben. Für die Länder wird dagegen vor allem die Finanzierung entscheidend sein. Die Ausstattung der Justiz ist grundsätzlich Ländersache – die Justizminister fordern aber seit Monaten in zunehmend scharfen Tönen, dass der Bund sie mit dreistelligen Millionenbeträgen bei Personal und digitaler Ausstattung unterstützt.
Gesetzentwurf zur Bild-Ton-Aufzeichnung im Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50180 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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