Laut EuGH sind deutsche Staatsanwaltschaften nicht unabhängig genug. Das führt zu Problemen beim Ausstellen und Vollstrecken von europäischen Haftbefehlen. Die Generalstaatsanwaltschaften und der GBA fordern den Gesetzgeber nun zum Handeln auf.
"Die deutschen Staatsanwaltschaften müssen im Europäischen Rechtsverkehr auf Augenhöhe bleiben und dürfen nicht ins Abseits geraten." Es sind deutliche Worte, mit der eine am Dienstag veröffentlichte Mitteilung der niedersächsischen Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) endet. Die Entscheidungen der Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften gefährde die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaften in Deutschland, heißt es. Und das sieht man nicht nur in Niedersachsen so.
Hintergrund ist die Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl (EuHB). Bereits im Mai 2019 entschieden die Luxemburger Richter, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keine europäischen Haftbefehle ausstellen darf. Denn laut Art. 6 Abs. 1 des e EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl (2002/584/JI) darf der Haftbefehl nur von einer "Justizbehörde" in einem Mitgliedstaat ausgestellt werden. Diese müsse entsprechend "unabhängig" arbeiten können. Nach Ansicht des EuGH ist das bei den deutschen Staatsanwälten allerdings nicht der Fall, weil sie im Einzelfall dem Weisungsrecht der Justizministerien unterliegen. In Deutschland haben die Generalstaatsanwälte mit einer schnellen Übergangslösung auf das Urteil reagiert. So wird der EuHB nun von einem Richter ausgestellt.
Vergangene Woche äußerte sich der EuGH erneut zur Unabhängigkeit europäischer Staatsanwaltschaften. Anders als 2019 ging es diesmal nicht um die Ausstellung, sondern die Vollstreckung des EuHB. Der EuGH stellte fest, dass Staatsanwaltschaften keine "vollstreckende Justizbehörde" im Rahmen der Vollstreckung eines EuHB sind, wenn das Gesetz es den Justizministerien erlaubt, sie im Einzelfall anzuweisen. Zwar ging es in Luxemburg diesmal um die niederländische Staatsanwaltschaft, die Entscheidung hat mittelbar aber auch Auswirkungen auf die Situation in Deutschland.
Und die niedersächsische Generalstaatsanwaltschaft, von der die Mitteilung von Dienstag stammt, ist auch nicht irgendeine, sondern die Stelle, die in Deutschland die Zusammenarbeit der Generalstaatsanwaltschaften für den Europäischen Haftbefehl koordiniert.
Abschaffung des Weisungsrechts beim EuHB?
Nach Einschätzung der Berliner GenStA hat die Entscheidung zur Folge, "dass auch in Deutschland künftig die Generalstaatsanwaltschaften nicht mehr befugt sind, wie bisher selbst in Fällen einer offensichtlichen Unzulässigkeit und im vereinfachten Verfahren über die Vollstreckung eingehender europäische Haftbefehle zu entscheiden". Dies führe, so die Berliner GenStA, zu einer nicht unerheblichen Mehrbelastung von Staatsanwaltschaften und Gerichten.
Die deutschen Generalstaatsanwaltschaften und der Generalbundesanwalt (GBA) sehen nun den Gesetzgeber in der Pflicht. "Um die Handlungsfähigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften im europäischen Kontext sicherzustellen, ist die Abschaffung des ministeriellen Weisungsrechts im Einzelfall zumindest für den Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU geboten", sagte die Berliner GenStA Margarete Koppers am Montag. "Die Generalstaatsanwält*innen Deutschlands und der Generalbundesanwalt haben dem Bundesministerium der Justiz dazu einen einvernehmlich gefassten Beschluss vorgelegt", so Koppers.
In dem gemeinsamen Beschluss fordern die Staatsanwälte und Staatsanwältinnen eine gesetzliche Anpassung der Stellung der deutschen Staatsanwaltschaften als "Justizbehörde" im europäischen Kontext. Laut Vorschlag soll im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) das Legalitätsprinzip als Grenze des Weisungsrechts ebenso ausdrücklich kodifiziert werden wie das Verbot justizfremder Erwägungen. Externe Weisungen sollten außerdem schriftlich erteilt und begründet werden.
Die Berliner Judikative gibt derweil Schützenhilfe und schließt sich dem Appell an. "Die Handlungsfähigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften ist auch für die Berliner Strafgerichte von essentieller Bedeutung", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Strafgerichtspräsidenten. Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaften bei der Ausstellung und Vollstreckung des EuHB sei unverzichtbar und müsse wieder gewährleistet werden. Andernfalls, so die Gerichtspräsidenten, drohen erhebliche Verzögerungen in der Strafrechtspflege. "Die Staatsanwaltschaften spielen eine wesentliche Rolle im Strafverfahren und wirken ganz entscheidend an der Strafrechtspflege mit. Diese Stellung darf nicht gefährdet werden."
Auch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) sieht offenbar Handlungsbedarf. "Mittelfristig könnte die Rechtsprechung des EuGH gesetzgeberischen Handlungsbedarf auslösen, um eine klare Regelung zu schaffen", so ein Sprecher gegenüber LTO am Dienstag zur Position des Hauses. Derzeit prüfe man aber noch.
Fest steht: Schon am 8. Dezember kommt die nächste Entscheidung. Der EuGH wird über die Europäische Ermittlungsanordnung entscheiden - und sich auch wieder zur Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft äußern.
Alexander Cremer und Markus Sehl, Nach EuGH-Entscheidungen zum europäischen Haftbefehl: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43596 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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