Wie in Deutschland ist auch in Österreich die Staatsanwaltschaft nicht strikt unabhängig organisiert. Europäische Haftbefehle dürfen die Ermittler im Nachbarland aber trotzdem ausstellen, meint die Generalanwältin am EuGH.
"Atypisch", aber nicht unzulässig: Generalanwältin Eleanor Sharpton geht davon aus, dass das österreichische System zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt (Schlussanträge vom 17.9.2019, Az. C-489/19).
Der EuHB soll die direkte Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten erleichtern. Er beruht auf der Idee, dass alle Staaten die Entscheidungen der jeweiligen Justizbehörden anerkennen und so Tatverdächtige ohne kompliziertes Auslieferungsverfahren überstellen können.
Dieses System gegenseitigen Vertrauens war zuletzt aber ins Wanken gekommen, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Grundsatzurteil im April dieses Jahres entschied, dass die deutschen Staatsanwaltschaften keinen EuHB ausstellen dürfen, weil sie nicht unabhängig genug organisiert sind.
Daraufhin meldeten sich plötzlich Zweifel an weiteren EuHB – diesmal ausgerechnet aus Deutschland. Das Kammergericht (KG) in Berlin hinterfragte einen von der Staatsanwaltschaft Wien ausgestellten Haftbefehl: Schließlich seien auch die österreichischen Staatsanwaltschaften dem Bundesminister für Justiz untergeordnet und damit keine "unabhängige Justizbehörde" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl (2002/584/JI).
Generalanwältin: Wesentliche Unterschiede zum deutschen System
Nun erklärt die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen allerdings, das österreichische System unterscheide sich "in wesentlichen Punkten" vom deutschen, das der EuGH gekippt hatte. Denn in Österreich muss bereits seit 2008 jeder von der Staatsanwaltschaft ausgestellte EuHB vorab von einem Gericht bewilligt werden.
Bei dieser gerichtlichen Bewilligung sei auch zu überprüfen, "ob die Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit beachtet worden sind", heißt es in der Mitteilung des EuGH. Diese Kontrolle der Verhältnismäßigkeit sei "eine der Hauptschwierigkeiten" des EuHB-Systems und stelle ein grundlegendes Erfordernis dar, betont Sharpton demnach in ihren Schlussanträgen. Es komme also entscheidend darauf an, dass diese Kontrolle in Österreich von einem Gericht übernommen werde.
Zudem sei das Verfahren der gerichtlichen Bewilligung gesetzlich geregelt. Soweit zur Entscheidung über die Bewilligung eines Haftbefehls weitere Ermittlungen erforderlich seien, könne das Gericht anordnen, dass die Kriminalpolizei diese vornehme oder sie von Amts wegen selbst vornehmen. Schließlich könne gegen die Bewilligung eine Beschwerde eingelegt werden. Das genüge "voll und ganz" den Anforderungen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes.
Sharpton schätzte das österreichische System der gerichtlichen Bewilligung des EuHB gleichwohl als "atypisch" gegenüber den Regelungen der meisten Mitgliedstaaten ein. In der mündlichen Verhandlung ging es dabei auch um die Frage, ob die gemeinsame Zuständigkeit von Gericht und Staatsanwaltschaft überhaupt zulässig sei. Die österreichische Regierung hatte die Ansicht vertreten, eigentlich stelle das Gericht – und damit eine unabhängige Justizbehörde – den Haftbefehl aus. Dem folgte die Generalanwältin jedoch nicht. Ausstellende Behörde sei die Staatsanwaltschaft, es erscheine "künstlich", dies dem Gericht zuzuschieben. Insgesamt genüge das System jedoch den Anforderungen des Rahmenbeschlusses.
In den meisten EU-Ländern unabhängige Staatsanwaltschaften
In Deutschland muss der EuHB seit der Entscheidung des EuGH von einem Richter ausgestellt werden – was allerdings in der Praxis zu einigen Problemen führt. Die Berufsverbände der Richter und Staatsanwälte fordern seit langem grundlegende Reformen, mit denen ein Weisungsrecht im Einzelfall ausgeschlossen werden soll.
In den meisten EU-Mitgliedstaaten wird der EuHB von Staatsanwälten ausgestellt. In der Regel ist die Staatsanwaltschaft dort aber strikt unabhängig organisiert. In einigen Ländern dagegen ist die Ausstellung des EuHB Sache des Ermittlungsrichters.
Außer in Deutschland und Österreich sind auch in den Niederlanden und Dänemark die Staatsanwaltschaften prinzipiell weisungsgebunden. In den Niederlanden stellt künftig ein Ermittlungsrichter anstelle des Staatsanwaltes den EuHB aus. Dänemark betonte nach der EuGH-Entscheidung gegenüber der EU-Kommission, dass die Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft speziell im Fall eines EuHB rechtlich ausgeschlossen sei.
Über die Vorlage des KG muss der EuGH noch entscheiden. Der Gerichtshof folgt allerdings oft den Schlussanträgen der Generalanwälte.
Schlussanträge zu EU-Haftbefehlen aus Österreich: . In: Legal Tribune Online, 17.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37681 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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