"Encrochats" vor deutschen Gerichten: Der ver­bo­tene Daten­schatz aus Fran­k­reich?

von Dr. Markus Sehl

11.08.2021

Die deutsche Polizei hat einen wertvollen Datenschatz geliefert bekommen: Abgeschöpfte Chats eines Krypto-Anbieters sollen tiefe Einblicke in die organisierte Kriminalität bieten. Aber dürfen sie als Beweis vor Gericht verwendet werden?

Im Frühjahr 2020 bahnt sich für deutsche Strafverfolgungsbehörden eine Sensation im Kampf gegen organisierte Kriminalität an, die französischen Kolleginnen und Kollegen hatten im Nachbarland zuvor einen Coup gelandet. Ihnen war es gelungen, den Kommunikationsanbieter "Encrochat" zu infiltrieren. Der ist spezialisiert auf verschlüsselte Kommunikation und bot abhörsichere Mobiltelefone inklusive Software an. Zwischen 1.000 und 2.000 Euro kostete so ein Gerät. Damit hielten zahlreiche Nutzer ein Telefon in den Händen, mit denen sie glaubten, unbedarft kommunizieren zu können.

Mithilfe einer aufgespielten Überwachungssoftware gelang es den französischen Behörden, die Kommunikation, die über diese Encrochat-Geräte lief, quasi live mitzulesen. Betroffen waren laut Gerichtsdokumenten, die LTO vorliegen, rund 32.000 Nutzer in 122 Ländern – darunter auch in Deutschland. Die Details der Überwachungsmaßnahmen sind allerdings unbekannt, sie sind in Frankreich als Staatsgeheimnis eingestuft - und damit beginnen die Herausforderungen für die Verwertung der Informationen aus diesen Chats in deutschen Strafverfahren.

Nach Datenlieferungen aus Frankreich Durchsuchungen in Deutschland

Über die europäische Polizeibehörde Europol erhielten auch Ermittlerinnen und Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) ab dem Frühjahr 2020 täglich Lieferungen aus dem französischen Datenschatz: IMEI-Gerätenummern, E-Mail-Adressen von Kontakten, Datum und Uhrzeit der Kommunikation, Standorte der Funkmasten, über die das Gerät eingebucht war – und vor allem Chatnachrichten zwischen den Nutzern. Es war ein regelrechtes Komplettpaket und ein selter direkter Einblick in die Kommunikation zwischen mutmaßlich Kriminellen. Zahlreiche Durchsuchungen durch GSG-9 und BKA etwa in Berlin und Umgebung folgten. Die Strafverfolgungsbehörden nahmen Drogenhandel und den Handel mit Kriegswaffen daraufhin besonders ins Visier.

Der BKA-Präsident Holger Münch erwähnte die Encrochat-Daten ausdrücklich, als er Ende Juli einen Bericht zur Drogenkriminalität vorstellte: "Auch unsere Ermittlungen und die Auswertung der EncroChat-Daten zeigen das erhebliche Ausmaß und das wachsende Gewaltpotential in diesem Phänomenbereich".

Seit Herbst 2020 beschäftigt der Encrochat-Datenvorrat auch deutsche Strafgerichte. Als einige der ersten Gerichte entschieden das Amts-, Land- und Oberlandesgericht in Bremen über die Verwertbarkeit des Datenbestandes. Und die Richterinnen und Richter hatte keine Zweifel daran, dass die aus Frankreich gelieferten Daten auch in deutschen Prozessen als Beweise verwertet werden dürfen. Es schlossen sich weitere Oberlandesgerichte mit gleichlautenden Entscheidungen an, etwa die in Hamburg, Rostock oder Schleswig.

Ganz anders sehen das allerdings eine Reihe von Strafverteidigerinnen und -verteidigern, die Mandanten in solchen Fällen beraten. Einer von ihnen ist der Kölner Strafverteidiger Prof. Dr. Ulrich Sommer, er befürchtet ein "Befugnis-Shopping unter den Ermittlungsbehörden". "Die deutschen Ermittler erhalten auf dem Umweg über die französische Behörden Zugriff auf die Kommunikation deutscher Staatsangehöriger auf deutschem Boden, die nach der deutschen Rechtsordnung so gar nicht erst hätten erhoben werden dürfen", sagt Sommer. Die Encrochat-Daten könnten auch ein Fall für das Bundesverfassungsgericht werden: Sommer hat im Rahmen eines Bremer und eines Hamburger Verfahrens Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Eine aufsehenerregende Entscheidung aus Berlin

Für Aufsehen hat zuletzt eine Entscheidung des LG Berlin zu den Encrochat-Daten aus Juli 2021 gesorgt. Die Überwachung sei ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Telekommunikationsgrundrecht aus Art. 10 Grundgesetz (GG) und in das sogenannte IT-Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG., stellte das Gericht fest. Die nach der eigentlichen Überwachung durch die französischen Behörden erfolgte Bereitstellung für eine Verwendung durch deutsche Behörden bedeute einen weiteren eigenständigen Eingriff.

Die LG-Richter wollen gleich mehrere Rechtsverstöße erkennen, die gegen eine Verwertung der Daten sprechen. Da wäre etwa da die Richtlinie für die Europäische Ermittlungsanordnung. Will ein Mitgliedstaat den Telekommunikationsverkehr einer Person auf deutschem Hoheitsgebiet überwachen, muss er die zuständige deutsche Behörde darüber unterrichten. Daran fehlte es, resümiert das LG Berlin in dem Fall, der es beschäftigte.

Zum Vergleich: Das OLG Hamburg und das OLG Schleswig hatten eine solche Unterrichtung dagegen für entbehrlich gehalten. Das OLG Schleswig schreibt dazu: "Insbesondere aber haben die deutschen Behörden die Daten verwendet, was - aus der Perspektive des europäischen Rechts - einer Heilung des europarechtlichen Verfahrensverstoßes gleichkommt." Dabei hätte die Unterrichtung ja eigentlich gerade eine Vergewisserung über die Voraussetzungen nach deutscher Rechtslage auslösen können. Das OLG Bremen sieht die Datenübermittlung als "spontanen Datenaustausch" zwischen Polizeibehörden, auf den die Richtlinie ohnehin keine Anwendung finde.

Steht jemand, der ein Krypto-Handy besitzt, schon unter Tatverdacht?

Als Rechtsgrundlagen könnten der § 100a und die Folgeparagraphen der Strafprozessordnung (StPO) in Frage kommen. Die erlauben eine heimliche Telekommunikationsvoraussetzung nur unter strengen Voraussetzungen. So muss ein Verdacht auf eine Katalogstraftat von besonderer Schwere vorliegen, um eine solche Telekommunikationsüberwachung zu rechtfertigen. Das Problem: Als die französische Überwachung anlief, vermuteten die Ermittler lediglich, dass einige der Encrochat-Nutzer das System für illegale Geschäfte nutzten. Der Verdacht war gerichtet auf viele der Nutzer – und zwar noch unkonkret und pauschal. Nach einer Auswertung im Juni 2020 gehen die Franzosen zwar nachträglich davon aus, dass rund 67 Prozent der Nutzer die Geräte für kriminelle Zwecke nutzten. Überwacht wurden aber zahlreiche Nutzer, die nach deutschen Maßstäben ex ante betrachtet wohl nicht die Verdachtsschwellen der Vorschriften in der StPO erreicht hätten.

Das OLG Rostock und das OLG Bremen wollen für einen Verdacht dagegen ausreichen lassen, dass jemand sich des Encrochat-Systems bedient hat. Das will das LG Berlin dagegen nicht durchgehen lassen. In dessen Beschluss heißt es entsprechend: "Ein genereller Schluss aus einem besonderen Sicherungsbedürfnis auf ein strafbares Verhalten wäre aber genauso unzulässig, wie etwa allein der Besitz von typischerweise bei Einbrüchen oder Fahrraddiebstählen genutzten Werkzeugen (Brechstangen, Bolzenschneider) nicht den für eine Durchsuchung nötigen Anfangsverdacht liefern kann."

Das OLG Schleswig wählt einen anderen Ansatz. Auf die Voraussetzungen der Vorschriften im System des § 100a StPO komme es gar nicht an, denn die Überwachungsmaßnahme habe sich gar nicht in erster Linie gegen deutsche Endnutzer der Kryptotechnik gerichtet, sondern nur gegen den – französischen – Anbieter eben dieser. Eine Argumentation, die das LG Berlin nicht überzeugt. Schließlich sei die Überwachung auf die Kommunikation der Endnutzer gerichtet gewesen, so die LG-Richter. Die Rechtverstöße wiegen aus Sicht des LG auch so schwer, dass sie ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen.

Systematische Suche nach Zufallsfunden?

Auch ein kürzlich in der NStZ* veröffentlichter Aufsatz von Rechtsanwalt Benjamin Derin und Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Kriminologe an der Ruhr-Uni Bochum, bilanziert, dass unter keinen Gesichtspunkten auch schon eine Verwendung der Daten in deutschen Strafverfahren möglich wäre – es fehle schlicht an einer Rechtsgrundlage. Dort heißt es zusammenfassend: "Die verdachtsunabhängige, ungezielte und breit gestreute heimliche Massenüberwachung, die erst auf die Generierung von Verdachtsmomenten gegen die einzelnen Nutzer und damit die systematische Suche nach Zufallsfunden gerichtet war, stellt eher eine geheimdienstliche Informationsabschöpfung dar als eine strafprozessuale Maßnahme (und diente dennoch der Einleitung von Strafverfahren)."

Es bleibt abzuwarten, ob das LG Berlin mit seiner Auffassung in der Landschaft der deutschen Strafgerichte erst einmal alleine bleibt – und welche Bundesgerichte sich noch mit den Encrochat-Datenschatz beschäftigen werden.

 

* Anm. d. Red.: Zunächst hieß es hier "NJW", geändert am 12.08.2021 09.40h.

Zitiervorschlag

"Encrochats" vor deutschen Gerichten: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45715 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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