Coronavirus und Justiz: Die Gerichte schalten auf Not­be­trieb

von Annelie Kaufmann

17.03.2020

Nur noch dringend notwendige Termine, Beschränkungen für Besucher – an vielen Gerichten gelten Sonderregelungen wegen Corona. Anwälte fordern eine einheitliche Linie. Die gibt es aber nicht.

Eigentlich sollte es in der kommenden Woche in Karlsruhe um die Bankenkrise gehen: Das Bundesverfassungsgericht wollte sein Urteil zum Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank verkünden. Doch der Verkündungstermin wurde auf den 5. Mai verschoben – Grund ist natürlich die Corona-Krise.

Am Bundesgerichtshof wollte der III. Zivilsenat eigentlich am Donnerstag über die Vervielfältigung der sog. "Kohl-Tonbänder" verhandeln, auch dieser Termin wurde aufgehoben. Wie eine Sprecherin mitteilt, will man der Empfehlung folgen, soziale Kontakte zu reduzieren. Die Vorsitzenden Richter würden deshalb öffentliche Verhandlungen aufheben, "soweit dies mangels Eilbedürftigkeit oder sonstiger Gründe für eine zeitnahe Entscheidung möglich ist".

Auch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig wird seine Tätigkeit einschränken. Dort gab es Coronavirus-Infektionen bei mehreren Beschäftigten. Bis zum 19. April sollen keine mündlichen Verhandlungen mehr stattfinden – mit Ausnahme von unaufschiebbaren Angelegenheiten. Das Dienstgebäude sei "für die Öffentlichkeit geschlossen", teilt die Pressestelle mit. Anträge, Klagen und Schriftsätze könnten aber weiterhin eingereicht werden, die Bearbeitung sei sichergestellt.

Schleswig-Holstein: Besucherverkehr einschränken, Termine verschieben

Als eines der ersten Bundesländer hat Schleswig-Holstein bereits am Sonntag bekannt gegeben, dass der Zugang zu den Gerichten stark beschränkt wird. Rechtssuchende sollen möglichst schriftliche Anträge stellen oder sich an eine Telefon-Hotline wenden. Auch Rechtsanwälte sollen die Gerichte nur betreten, um Termine wahrzunehmen und bei der Eingangskontrolle einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie auch Kontaktdaten angeben müssen. Der Zutritt wird untersagt, wenn sich jemand in den 14 Tagen zuvor in einem Risikogebiet aufgehalten hat oder Kontakt zu einer infizierten Person hatte. Schleswig-Holstein beruft sich auf das Infektionsschutzgesetz und darauf, dass die Leiter der Gerichte nach dem Landesjustizgesetz das Hausrecht ausüben können.

Termine in Gerichten und Staatsanwaltschaften sollen "auf ein absolut notwendiges Minimum beschränkt werden", heißt es in dem Erlass des schleswig-holsteinischen Justizministeriums weiter. Das allerdings habe "empfehlenden Charakter", so ein Sprecher des Ministeriums. Letztlich entscheiden die Richter über die Bearbeitung ihrer Verfahren und die Durchführung von Terminen.

Wenn ein Termin durchgeführt wird, muss allerdings auch der Grundsatz der Öffentlichkeit von Verhandlungen gewahrt werden. In diesen Fällen wird der Zutritt zum Gericht weiterhin grundsätzlich gestattet und es soll durch "geeignete Maßnahmen" sichergestellt werden, dass eine Ansteckungsgefahr weitgehend ausgeschlossen ist, heißt es in dem Erlass.

Notbetrieb in Berlin, Hamburg, Ba-Wü und Niedersachsen

Andere Bundesländer teilten nun ähnliche Beschränkungen mit. Der Sprecher des Berliner Justizsenators erklärt gegenüber LTO, die Gerichte hätten den Publikumsverkehr "auf ein Minimum" reduziert. Haftsachen sollen aber "unverändert weiterlaufen". Auch in Hamburg wird der Zutritt zu den Gerichtsgebäuden für bestimmte Personen untersagt (nach Aufenthalt in einem Risikogebiet oder Kontakt mit einer infizierten Person), Akteneinsicht soll möglichst per Post stattfinden, mündliche Verhandlungen, Anhörungen und Beratungen sollen "auf dringende Fälle reduziert" werden. Die Prüfung obliege den Vorsitzenden Richtern.

Das Justizministerium Baden-Württemberg teilt mit, die Justiz müsse auf den zwingend erforderlichen Dienstbetrieb und unaufschiebbare Verhandlungen beschränkt werden. Man habe am Wochenende ein Schreiben an die Gerichte verschickt. Justizminister Guido Wolf (CDU) sagte, es müsse sich "niemand Sorgen machen". Der Betrieb werde "stark beschränkt, eingestellt wird er nicht". Wichtig seien ermittlungsrichterliche Tätigkeiten, Haftsachen, eilige Familiensachen, andere Eilentscheidungen und unter Umständen seit längerem laufende Strafverhandlungen.

Auch in Niedersachen wurden die Justizbehörden per Erlass aufgefordert, den Publikumsverkehr zu reduzieren, die Öffnungszeiten der Gerichte wurden eingeschränkt. Das Justizministerium bittet auf seiner Internetseite darum, Rechtssuchende sollten prüfen, ob sie auf einen Besuch beim Gericht verzichten könnten. Eine geordnete Rechtspflege sei aber weiterhin gewährleistet.

Auch Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen-Anhalt teilten auf Anfrage von LTO mit, dass der Betrieb der Gerichte eingeschränkt wird. Thüringen weist darauf hin, dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften über eigene Pandemiepläne verfügten und Richter und Präsidien entscheiden würden, wie der Gerichtsbetrieb aufrechterhalten wird. Sachsen erklärt, Justizministerin Katja Meier habe sich mit den Präsidenten der Obergerichte und dem Generalstaatsanwalt "verständigt". Die Gerichte würden sich mit Notfallplänen vorbereiten und entscheiden, inwiefern Termine verschoben werden sollen. In Nordrhein-Westfalen sollte heute über entsprechende Maßnahmen beraten werden.

Letztlich entscheidet jeder Richter selbst

Die Länder setzen darauf, mit den Gerichtspräsidenten ein möglichst einheitliches Vorgehen abzustimmen – und auf Richter, die sich daran orientieren. Letztlich bleibt es aber die Entscheidung des zuständigen Richters, ob ein Termin durchgeführt wird oder nicht. Das ergibt sich aus dem Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit.

Auch der Öffentlichkeitsgrundsatz muss gewahrt bleiben. Zwar sieht § 172 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) vor, dass das Gericht in bestimmten Fällen die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausschließen kann – dazu zählt auch, wenn "eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist". Ein allgemeiner Ausschluss der Öffentlichkeit ist aber nicht vorgesehen.

Für den Fall, dass Coronainfektionen innerhalb des Gerichts auftreten und Richter erkranken, können die Präsidien Notfall-Geschäftsverteilungspläne aufstellen. Um personellen Engpässen zu begegnen, sehen das GVG und das Deutsche Richtergesetz verschiedene Möglichkeiten vor, z.B. einem Richter ein zusätzliches Richteramt zu übertragen.

Homeoffice für Richter möglich

Zivilverfahren können grundsätzlich auch per Videokonferenz durchgeführt werden, das regelt die Zivilprozessordnung. Hamburg will auch unabdingbare Termine wie etwa eine Haftprüfung demnächst per audiovisueller Anhörung abhalten.

Ihre Arbeitszeit können Richter ohnehin selbst ausgestalten, eine spezielle Erlaubnis, aus dem Homeoffice zu arbeiten, brauchen sie also nicht – solange die technischen Voraussetzungen gegeben sind. Baden-Württemberg hat angekündigt, in den kommenden Tagen zusätzlich 1.300 Mitarbeiter der Gerichte und Staatsanwaltschaften mit Fernzugängen in das Landesverwaltungsnetz auszustatten, darunter auch 200 Arbeitsplätze von Serviceeinheiten.

Beim Deutschen Richterbund hält man die Maßnahmen für richtig. Der DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn sagte gegenüber LTO, es gelte den Zugang zu den Gerichten auf ein Mindestmaß zu beschränken, die Justiz für dringende Aufgaben aber arbeitsfähig zu erhalten. "Die Justizverwaltungen und Gerichtsleitungen treffen in enger Absprache mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort die erforderlichen Maßnahmen, um Gesundheitsrisiken für alle Beteiligten zu minimieren."

Anwälte fordern einheitliche Linie

Trotzdem bleibt die Verunsicherung groß: Letztlich wird sich für jeden einzelnen Termin entscheiden, ob er stattfindet oder nicht. Rechtssuchende können sich bei den Gerichten informieren, Anwälte müssen sich ebenfalls an die jeweiligen Richter wenden.

Die Anwaltsverbände appellieren deshalb an die Justiz, eine möglichst einheitliche Linie einzuhalten. Der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Dr. Ulrich Wessels, sagt: "Ich bitte alle Gerichte, bereits anberaumte Termine, die nicht eilbedürftig sind, in Abstimmung mit den Parteivertreterinnen und Parteivertretern aufzuheben und auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen." Fristen sollten unter Berücksichtigung der aktuellen Situation möglichst großzügig gesetzt, Fristverlängerungsanträge wohlwollend behandelt werden.

Für den Republikanischen Anwaltsverein (RAV) fordert der Vorstandsvorsitzende Dr. Peer Stolle: "Der erste Schritt muss sein, Gerichtstermine, die sich rechtskonform verschieben lassen, sofort aufzuheben". Auch er fordert, Fristen für Stellungnahmen in Gerichts- und Verwaltungsverfahren umgehend zu verlängern.

Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) setzt sich ein für "großzügige" Regelungen bei Fristversäumnis, "auch bei technischen Schwierigkeiten in der Korrespondenz mit Gerichten". In der Pressemitteilung heißt es sogar, man solle "in Betracht ziehen, für eine beschränkte Zeit § 245 der Zivilprozessordnung (Unterbrechung bei Stillstand der Rechtspflege) entsprechend anzuwenden". Der Wortlaut dieser Regelung: "Hört infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts auf, so wird für die Dauer dieses Zustandes das Verfahren unterbrochen."

So weit wollen es allerdings weder die Justizministerien noch die Gerichte kommen lassen. Klar ist schließlich, dass eine Ausnahmesituation wie die Corona-Krise auch bedeutet, dass dringende Rechtsfragen geklärt werden müssen. Gerade die Arbeits- und die Sozialgerichte müssen sich voraussichtlich auch auf eilige Verfahren einrichten. Es wird darum gehen, welche Ansprüche Arbeitnehmer oder Sozialleistungsempfänger angesichts der aktuellen Situation haben.

Zitiervorschlag

Coronavirus und Justiz: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40899 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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