BVerfG steht Umbruch bevor: Vier Wahlen für Karls­ruhe

von Dr. Christian Rath

10.03.2020

Am BVerfG steht ein größerer Umbruch bevor. Zwei neue Richter sind zu wählen, dazu Präsident und Vizepräsident des Gerichts. Christian Rath gibt einen Überblick über die anstehenden Entscheidungen. Die ersten könnten noch diese Woche fallen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gilt vielen Bürgern als Fels in der Brandung, seine Urteile als Ausdruck rationaler und am Gemeinwohl orientierter Entscheidungsfindung. Umso schockierter sind sie, wenn sie erfahren, dass Verfassungsrichter von der Politik gewählt werden. Das klingt doch sehr nach Filz und Parteienstaat. Die Erinnerung, dass das Karlsruher Gericht in den letzten Jahrzehnten dennoch unabhängig und überzeugend agiert hat, führt dann oft zu kognitiven Dissonanzen.

Die demokratische Legitimation des BVerfG wird allerdings nicht einfacher. Das Schrumpfen der großen Volksparteien macht die Aushandlungsprozesse bei der Richterwahl anspruchsvoller. Es gibt mehr Akteure als früher und die informellen Proporz-Regeln müssen immer wieder überprüft und angepasst werden.

In den kommenden Tagen und Wochen wird das Thema Verfassungsrichterwahl wieder für Schlagzeilen sorgen. Schauplatz ist diesmal vor allem der Bundesrat. Die Länderkammer muss demnächst die Nachfolger der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle und Johannes Masing sowie einen neuen Präsidenten des BVerfG wählen. Der Bundestag hat nur den neuen Vizepräsidenten zu bestimmen.

Veränderte Rahmenbedingungen

Das BVerfG besteht bekanntlich aus zwei Senaten mit je acht Richtern.
Diese 16 Richter werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. In jedem Senat müssen drei Mitglieder vorher Richter an einem Bundesgericht gewesen sein, etwa am Bundesgerichtshof.

Die pluralistische Besetzung des BVerfG wird dadurch erreicht, dass die Richterwahl im Bundestag und im Bundesrat jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit erfolgt. Früher genügte es, wenn sich CDU/CSU und SPD über ausgewogene Personalpakete einigten. Grüne und FDP erhielten nur dann ein Vorschlagsrecht, wenn sie an der Bundesregierung beteiligt waren. Inzwischen werden Grüne und FDP aber immer öfter auch für eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt.

Derzeit sitzen im Ersten Senat drei Richter auf CDU/CSU-Vorschlag (Josef Christ, Stephan Harbarth, Henning Radtke), drei Richter auf SPD-Vorschlag (Gabriele Britz, Johannes Masing, Yvonne Ott), eine Richterin auf Grünen-Vorschlag (Susanne Baer) und ein Richter auf FDP-Vorschlag (Andreas Paulus).

Im Zweiten Senat sitzen vier Richter auf CDU/CSU-Vorschlag (Peter M. Huber, Sibylle Kessal-Wulff, Christine Langenfeld, Peter Müller) und vier Richter auf SPD-Vorschlag (Monika Herrmanns, Doris König, Ulrich Maidowski, Andreas Voßkuhle).

Seit 2016 versuchen die Grünen einen neuen Verteilungsschlüssel durchzusetzen. Da sie in zehn von 16 Ländern mitregierten, konnte im Bundesrat kein Verfassungsrichter mehr gegen ihren Willen gewählt werden. Sie erzwangen damals eine Absprache, dass im Bundesrat jeder fünfte Verfassungsrichter von den Grünen vorgeschlagen wird. Die Regelung kam aber nie zur Anwendung. Als 2018 bei der Nachfolge für Richter Michael Eichberger ein Richterposten vom CDU/CSU-Vorschlag zum Grünen-Vorschlag werden sollte, stellte man fest, dass dies zu einer unausgewogenen Senatsbesetzung geführt hätte. Gewählt wurde dann auf CDU/CSU-Vorschlag der BGH-Richter Henning Radtke. Den Grünen wurde stattdessen die Nachfolge von Andreas Voßkuhle versprochen. Die Grünen ließen sich nicht ungern zwei Jahre vertrösten. Denn so können sie erstmals einen Vorschlag für den Zweiten Senat machen.

Zugleich wurde 2018 eine neue Proporz-Formel gefunden, die nun für beide Senate gelten soll und heute immer noch akzeptiert wird. Die Formel lautet 3-3-1-1. Sie bedeutet, dass in jedem Senat je drei Richter auf Vorschlag von CDU/CSU und SPD sitzen sollen und je ein Richter auf Vorschlag von Grünen und FDP. Die Linke und die AfD werden weiterhin nicht berücksichtigt, da sie für die Zwei-Drittel-Mehrheiten nicht benötigt werden und auch keine Sperrposition im Bundesrat haben.

Die neue Proporz-Formel soll allerdings nur bis zur nächsten Bundestagswahl gelten, die turnusgemäß für Herbst 2021 terminiert ist.

Schließlich spricht viel dafür, dass sich die Kräfte bei dieser Wahl neu sortieren. Der FDP wurde allerdings bereits versprochen, dass die Nachfolge von Andreas Paulus im März 2022 auch wieder auf Vorschlag der FDP erfolgen soll.

Wer wird Nachfolger von Voßkuhle?

Die erste Entscheidung, die 2020 ansteht, ist die Nachfolge von Andreas Voßkuhle. Dessen Amtszeit im Zweiten Senat endet am 6. Mai 2020. Zwar endet die Amtszeit von Johannes Masing fünf Wochen früher. Doch die Grünen bestehen darauf, dass der Nachfolger von Voßkuhle zuerst gewählt wird, damit sie nicht erneut ausgebootet werden können.

Die Grünen haben auch bereits einen Kandidaten, den sie aber noch nicht nennen. Der Vorschlag soll an diesem Donnerstag in der Ministerpräsidentenkonferenz diskutiert werden. Wenn es keine Einwände gibt, könnte die Wahl bereits am Freitag im Bundesrat stattfinden. Die nächstspätere Bundesrats-Sitzung wäre am 3. April.

Da es sich bei der Voßkuhle-Nachfolge um keine Bundesrichter-Stelle handelt, konnten die Grünen aus einem wachsenden Reservoir grün-naher Rechtsprofessoren schöpfen. Erwartet wurde bisher, dass die Grünen eine Frau nominieren. Allerdings ist der Zweite Senat bereits ausgewogen mit Männern und Frauen besetzt. Wenn als Nachfolger von Voßkuhle ein Mann vorgeschlagen würde, bliebe die Parität also erhalten.

Die Grünen haben nur das Vorschlagsrecht für Voßkuhles Richterposten. Für das Präsidentenamt und den Senatsvorsitz gelten andere Regeln.

Wer folgt auf Richter Masing ins Herz des BVerfG?

Die Amtszeit von Johannes Masing im Ersten Senat endet am 1. April 2020, also schon in drei Wochen. Diese Frist kann nicht eingehalten werden.

Denn die SPD, die das Vorschlagsrecht für diesen Richterposten behalten hat, ist noch im Findungsprozess. Sie wird auf der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag noch keinen Vorschlag präsentieren. Die Wahl im Bundesrat kann also frühestens am 3. April stattfinden.

Das BVerfG und insbesondere auch Masing selbst sind über die Verzögerung keineswegs empört. Im Gegenteil. Masing würde gerne noch das Urteil zum BND-Gesetz mitberaten, dessen Entwurf er als Berichterstatter derzeit schreibt. Die mündliche Verhandlung hatte im Januar stattgefunden.

Masings Posten ist von großer Bedeutung. Er war für zentrale demokratische Grundrecht wie die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit zuständig. Außerdem gehörte der Datenschutz zu seinem Dezernat und damit die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit sowie die Sicherung von Persönlichkeitsrechten im Internet. Anders als im Zweiten Senat bleiben die Dezernate im Ersten Senat auch nach einem Richterwechsel stabil.

Allerdings hat der Erste Senat schon im Dezember eine Änderung der Geschäftsverteilung vorgenommen. Für das Versammlungsrecht ist jetzt Stephan Harbarth zuständig; der Datenschutz in Landesgesetzen (zum Beispiel Polizeigesetzen) ging an Yvonne Ott. Der massiv überlastete Masing war damit einverstanden. Sein Dezernat bleibt auch nach der Anpassung das Herz des BVerfG.

Die SPD sucht ausdrücklich einen Kandidaten, der Masings ausgewogene Linie fortführen will. Masings Ziel war es immer, die Sicherheitsbehörden rechtsstaatlich einzuhegen, ohne aber deren Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren.

Neuer BVerfG-Präsident könnte schneller gewählt werden als gedacht

Da mit Andreas Voßkuhle der bisherige Präsident des BVerfG ausscheidet, muss ein Nachfolger gewählt werden. Auch hier ist diesmal der Bundesrat zuständig. Beim letzten Mal war es der Bundestag.

Es ist zwar nicht zwingend, aber üblich, dass der Vizepräsident zum Präsidenten aufsteigt. Beim jetzigen Vizepräsidenten Stephan Harbarth war dies von vornherein geplant. Er gilt schon seit seiner Wahl zum Verfassungsrichter Ende 2018 als designierter neuer Präsident. In die Auswahl waren auch Kanzlerin Angela Merkel sowie die Fraktionsspitzen von SPD, Grünen und FDP eingebunden.

In der vorigen Woche hatte das Handelsblatt ausführlich über unionsinterne Kritik an Harbarth berichtet. Dabei handelte es sich aber nur um Einzelpersonen ohne großen Einfluss. Auch waren manche Vorwürfe eher kleinteilig. So wurde Anstoß daran genommen, dass die Uni Heidelberg auf Vorschlag von bislang unbekannter Seite Harbarth Anfang 2018 zum Honorarprofessor machte - und so seine Wahl zum Verfassungsrichter gefördert habe. Tatsächlich war dieser Titel aber recht nebensächlich für Harbarths Wahl. Wichtig war eher seine Vita als Rechtsanwalt und seine rechtspolitische Erfahrung als Fraktions-Vize der CDU/CSU im Bundestag.

Dass mit Harbarth nun ausgerechnet ein profilierter Politiker zum Präsidenten des BVerfG wird, war aus europäischer Sicht sicher ungeschickt. In Ländern wie Polen und Ungarn, die ihre Verfassungsgerichte domestiziert haben, wird man nun natürlich gerne auf Deutschland zeigen. Dass in Deutschland die politische Kultur anders ist, weil sich das Gericht pluralistisch zusammensetzt und Verfassungsrichter nach ihrer Wahl gedanklich ein neues Leben beginnen, wird man nun immer wieder erklären müssen.

Es gibt allerdings keine Anzeichen, dass die Wahl Harbarths zum Präsidenten des BVerfG noch in Frage gestellt wird. Es könnte sogar schneller gehen als gedacht. Sollte die Nachfolge Voßkuhle am Freitag kurzfristig auf die Tagesordnung des Bundesrats gesetzt werden, könnte auch die Wahl Harbarths in der gleichen Sitzung vollzogen werden. Die Amtszeit würde dennoch erst im Mai beginnen. Präsident bliebe Harbarth im Falle seiner Wahl bis zum 31. November 2030.

Wer wird neuer BVerfG-Vizepräsident?

Bisher war Stephan Harbarth Vizepräsident. Wenn er zum Präsidenten gewählt wird, braucht das Gericht einen neuen Vizepräsidenten. Nach § 9 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) muss der Vizepräsident aus einem anderen Senat kommen als der Präsident. Das heißt: der künftige Vize muss aus den Richtern des Zweiten Senats gewählt werden. Gemäß § 15 BVerfGG ist der neue Vizepräsident dann auch automatisch Vorsitzender des Zweiten Senats.

Da die CDU/CSU den kommenden Präsidenten vorschlägt, liegt das Vorschlagsrecht für den Vizepräsidenten traditionsgemäß bei den Sozialdemokraten. Es liegt nahe, dass die SPD einen der drei von ihr vorgeschlagenen Richter des Zweiten Senats (Maidowski, Herrmanns oder König) zum Vizepräsidenten nominiert.

Maidowski ist der charmanteste der drei, was für das eher repräsentative Amt des Vizepräsidenten ein Argument sein könnte. Vielleicht will die SPD als Ausgleich zu Harbarth aber lieber eine Frau nominieren. Für Monika Herrmanns könnte sprechen, dass ihre Amtszeit schon 2022 endet und die SPD dann einen neuen Vizepräsidenten vorschlagen könnte, der nach dem Ausscheiden von Harbarth übernächster Gerichtspräsident würde.

Aber wer weiß, ob die SPD 2022 noch stark genug ist, um dieses Vorschlagsrecht beanspruchen zu können? Vielleicht wird sie als Vizepräsidentin nun doch eher Doris König nominieren, die immerhin bis 2025 im Amt bleiben kann. Derzeit will sich die SPD noch nicht festlegen, um auch den von den Grünen vorgeschlagenen Voßkuhle-Nachfolger in die Überlegungen einbeziehen zu können.

Die Wahl des Vizepräsidenten ist die einzige der vier Entscheidungen, die im Bundestag stattfindet. Nach § 9 i.V.m. § 6 BVerfGG findet die Wahl (auf Vorschlag des Wahlausschusses) im Plenum des Bundestags statt. Erforderlich ist auch hier eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Zitiervorschlag

BVerfG steht Umbruch bevor: . In: Legal Tribune Online, 10.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40757 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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