Künftig wird die Hauptverhandlung im Strafverfahren per Video aufgezeichnet. Das könnte eine zweite Chance für Aufnahmen zu historischen und wissenschaftlichen Zwecken sein, meint Katrin Wick – dazu braucht es aber weitere Änderungen.
Schon 2017 schuf der Gesetzgeber vor dem Hintergrund zeitgeschichtlich bedeutender Strafprozesse wie dem NSU-Verfahren mit § 169 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eine Rechtsgrundlage für die Tonaufnahme von Gerichtsverhandlungen. Diese Norm wurde – soweit ersichtlich – bislang nur ein einziges Mal angewandt: Das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg veranlasste die Tonaufnahme im sog. Halle-Prozess, in dem der antisemitisch motivierte Anschlag auf die Synagoge in Halle abgeurteilt wurde.
Betrachtet man andere große und aufsehenerregende Strafprozesse in Deutschland, stellt sich die Frage, warum § 169 Abs. 2 GVG so selten zur Anwendung kommt, zumal die gesetzlichen Hürden der Anwendung dieser Vorschrift nicht unüberwindbar hoch sind. Gemäß § 169 Abs. 2 GVG können Tonaufnahmen der Gerichtsverhandlung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken vom Gericht zugelassen werden, wenn es sich um ein Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland handelt.
Könnte sich das jetzt ändern? Immerhin hat das Bundesjustizministerium kürzlich einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach die Hauptverhandlung im Strafverfahren künftig in Bild und Ton aufgezeichnet werden soll – wenn auch verbindlich erst ab 2030. Dazu soll die Strafprozessordnung (StPO) geändert werden.
So soll sichergestellt werden, dass die Hauptverhandlung – wie in vielen anderen Ländern längst üblich – besser protokolliert wird und die Beteiligten auf die Dokumentation zugreifen können, um Plädoyers und Urteil vorzubereiten. Im Gegensatz dazu dürfen die – bisher schon möglichen – Aufnahmen im Rahmen des § 169 Abs. 2 GVG gerade nicht für Verfahrenszwecke verwendet werden. Sie dienen ausschließlich der späteren Auswertung mit wissenschaftlicher und historischer Zielsetzung. Zudem sind lediglich Tonaufnahmen vorgesehen.
Es handelt sich also um zwei völlig unterschiedliche Regelungen, die nebeneinander stehen – sinnvoll wäre es jedoch, beides aufeinander abzustimmen, um Synergieeffekte zu nutzen.
Die Aufzeichnung zu historischen Zwecken ist möglich, aber kommt so gut wie nie vor
§ 169 Abs. 2 GVG führt nicht näher aus, wann ein Verfahren zeitgeschichtliche Bedeutung hat. Ist dies dann gegeben, wenn das Verfahren eine besonders große mediale Aufmerksamkeit erfährt, etwa weil die Taten besonders grausam sind, weil Täter oder Opfer Personen des öffentlichen Lebens sind oder weil es eine besonders hohe Anzahl an Geschädigten gibt? Das hat der Gesetzgeber den Gerichten überlassen.
Wichtig ist lediglich, dass eine gewisse Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland bestehen muss. Dies ist häufig bei politisch motivierten Straftaten (wie etwa im Halle-Prozess) der Fall. Es kann aber auch bei Wirtschaftsstrafverfahren mit einem enormen Steuerschaden (beispielsweise in den Cum/Ex-Fällen) gegeben sein.
Die restriktive Handhabung des § 169 Abs. 2 GVG durch die Gerichte korrespondiert mit den kritischen Stimmen der Skeptiker im Rahmen der Reformdiskussion um die Erweiterung des § 169 GVG – waren die Kritiker doch überwiegend im Bereich der Justiz zu verorten. Argumentiert wurde mit der Schutzwürdigkeit der Persönlichkeitsrechte (sowohl des Angeklagten, aber auch des Gerichts und der übrigen Verfahrensbeteiligten) und mit dem organisatorischen Aufwand, da die für § 169 Abs. 2 GVG notwenige Technik nicht "serienmäßig" in den Gerichtsälen vorhanden ist.
Hier könnte die geplante Einführung einer digitalen Dokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen Abhilfe schaffen und die bestehenden Hemmungen, von § 169 Abs. 2 GVG Gebrauch zu machen, überwinden.
Alle Beteiligten müssen sich nun daran gewöhnen
Ausweislich des Referentenentwurfs des BMJV von November 2022 soll in Strafverfahren, die erstinstanzlich vor den Land- und Oberlandesgerichten stattfinden, eine Aufzeichnung in Bild und Ton erfolgen, so sieht es § 271 Abs. 2 S. 1 des Gesetzentwurfs zur Änderung der StPO (StPO-E) vor. Die Tonaufzeichnung soll zusätzlich mittels KI-basierter Technik in ein elektronisches Dokument transkribiert werden.
Nach § 273 Abs. 3 S. 1 StPO-E sollen grundsätzlich sowohl die audiovisuellen Aufzeichnungen als auch die automatisch angefertigten Transkripte zu den Akten genommen werden. Vor diesem Hintergrund bietet sich die Ausnutzung von Synergieeffekten für die parallele Anwendung des § 271 StPO-E und des § 169 Abs. 2 S. 1 GVG an. Sollte ein Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik stattfinden, so könnten die ohnehin gemäß § 271 Abs. 2 S. 1 StPO-E anzufertigenden Aufzeichnungen zugleich für Aufzeichnung von Verfahren mit besonders herausragender Bedeutung i.S.d. § 169 Abs. 2 GVG genutzt werden.
Zumindest die richterlichen Bedenken hinsichtlich eines zusätzlichen Organisationsaufwandes zur Umsetzung des § 169 Abs. 2 GVG wären obsolet, da ohnehin eine audiovisuelle Aufzeichnung stattfinden wird. Die professionellen Verfahrensbeteiligten werden sich an die Technik gewöhnen (müssen), was zu einer reduzierten Hemmschwelle auch bei der Anwendung des § 169 Abs. 2 GVG führen kann.
Zugleich wird mit der audiovisuellen Aufzeichnung im Rahmen des § 271 Abs. 2 S. 1 StPO-E das Argument der möglichen Anpassung des Aussageverhaltens bei Angeklagten und Zeugen aufgrund der technischen Dokumentation auch für § 169 Abs. 2 GVG entkräftet.
Analog zum erforderlichen Persönlichkeitsschutz durch die technische Auswahl der Kameraeinstellung und der Möglichkeit der nachträglichen Verpixelung sowie der Nichterfassung des Zuschauerbereichs im Rahmen des § 273 Abs. 1 StPO-E können all diese Maßnahmen auch bei den (Ton-)Aufnahmen im Rahmen des § 169 Abs. 2 GVG berücksichtigt werden.
Die Bild-und Tonaufnahmen könnten auch einfach nachträglich archiviert werden
Um die aufgezeigten Synergieeffekte tatsächlich nutzen zu können, müssten die im Referentenentwurf enthaltenen §§ 271 ff. StPO-E und § 169 Abs. 2 GVG technisch aufeinander abgestimmt werden. Denn nach derzeitiger Entwurfs- bzw. Gesetzeslage wäre eine Verwertung der audiovisuellen Aufzeichnungen für nachgelagerte wissenschaftliche und historische Arbeiten nicht möglich. Dies hätte zur Folge, dass ein Gericht, das in einem Verfahren die Voraussetzungen des § 169 Abs. 2 GVG für gegeben hält, auch nach Einführung der digitalen Dokumentation der Hauptverhandlungen eine zusätzliche Tonaufnahme anordnen müsste, um Wissenschaftlern und Historikern den Zugang zum Prozessstoff nach Ablauf der Sperrfrist ermöglichen zu können.
Der Grund dafür liegt im jetzigen Stand des Referentenentwurfs: Danach ist gemäß § 273 Abs. 5 S. 1 StPO-E die Verwendung der Aufzeichnungen – im Gegensatz zu Aufnahmen nach § 169 Abs. 2 GVG – nur für Strafverfahrenszwecke zulässig. Die Aufzeichnung der Angaben von Angeklagten, Zeugen und Nebenklägern sollen mit deren Einwilligung auch in anderen gerichtlichen und behördlichen Verfahren verwertbar sein, § 273 Abs. 5 S. 2 StPO-E. Eine Verwertung für historische oder wissenschaftliche Zwecke ist in den §§ 271 ff. StPO-E dagegen nicht vorgesehen.
Eine Möglichkeit, die beschriebenen Abstimmungskonflikte aufzulösen, würde darin bestehen, die Option der Verwertung für Zwecke des § 169 Abs. 2 GVG bspw. ausdrücklich in § 273 Abs. 5 StPO-E als weiteren zulässigen Verwendungszweck aufzunehmen. Dementsprechend müsste in § 273 Abs. 4 StPO-E eine Regelung geschaffen werden, die tatsächliche Aufbewahrung für historische und wissenschaftliche Zwecke zeitlich sachgerecht zu gestalten.
Gerade für historische Zwecke sind Bildaufnahmen sinnvoll
Damit einhergehen sollte außerdem eine Anpassung des § 169 Abs. 2 GVG, sodass die Aufzeichnung nicht nur in Ton, sondern – wie im Vorfeld der Reform des § 169 GVG auch diskutiert – in Bild erfolgen kann und soll. Gerade für eine dem Strafverfahren nachgelagerte Auswertung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken ist die Bilddokumentation von großer Bedeutung. Auch sollte in Erwägung gezogen werden, die ohnehin im Rahmen des § 271 Abs. 2 StPO-E automatisch erstellten Transkripte für Verfahren, in denen die Archivierung nach § 169 Abs. 2 GVG zur Anwendung kommt, ebenfalls zu sichern.
Um einer unbefugten Verbreitung entgegenzuwirken, sollte die Weitergabe von Aufzeichnungen zu historischen Zwecken dem Schutzbereich des § 353d StGB-E unterfallen.
Trotz unterschiedlicher Zielrichtungen der Aufnahmen nach § 169 Abs. 2 GVG auf der einen und § 273 Abs. 1 StPO-E auf der anderen Seite, sind die Argumente für und gegen eine Aufzeichnung nahezu identisch.
Dass die Hauptverhandlung künftig ohnehin aufgezeichnet werden muss, bietet eine weitere wichtige Chance: Man könnte die Archivierung der Aufnahmen auch nachträglich noch anordnen – auch das müsste lediglich in § 169 Abs. 2 GVG ermöglicht werden. Bislang muss die Relevanz eines Verfahrens als bedeutsam für die Bundesrepublik im Vorhinein getroffen werden. Es erscheint aber möglich, dass sich erst im Laufe des Verfahrens die zeitgeschichtliche Bedeutung zeigt – dann sollte das Gericht die Aufnahmen unproblematisch den Archiven zur Verfügung stellen können.
Dr. Katrin Wick ist Rechtsanwältin seit 2019, zunächst bei Clifford Chance in Frankfurt, derzeit im Frankfurter Büro von Feigen Graf. Sie ist spezialisiert auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht und vertritt sowohl Unternehmen als auch Individualpersonen. Sie promovierte 2018 zum Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren.
Bild- und Tonaufnahmen von Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50509 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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