Der Vergleich mit VW im Abgasskandal-Verfahren wäre fast an Anwaltskosten gescheitert. Volker Römermann beriet die Anwälte, die 50 Millionen Euro wollten – aus Geschäftsführung ohne Auftrag, denn laut Gesetz gäbe es fast nichts.
LTO: Herr Professor Römermann, Sie waren bei den Vergleichsverhandlungen zwischen VW und dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) dabei, die am vergangenen Freitag doch noch erfolgreich endeten. Danach sagten sie, im Anwaltsrecht müssten einige Lücken geschlossen werden, weil die Musterfeststellungsklage insoweit nicht zu Ende gedacht sei.
Prof. Dr. Volker Römermann: Wir machen jetzt mit der in Deutschland Ende 2018 eingeführten Musterfeststellungsklage erste Erfahrungen. Einige Fragen zur Vergütung von Anwälten sind so unzureichend geregelt, dass sie in dem Verfahren zwischen dem zvbv und VW schnell Gegenstand heftiger Debatten wurden, weil sich herausstellte, dass die marginalen Gebühren für die Prozessvertretung bei einer Musterfeststellungsklage nicht ausreichen.
Schließlich haften die Prozessanwälte unter dem Gesichtspunkt des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gegenüber jedem einzelnen Anbieter. Dafür sollen sie, wenn man dem Wortlaut des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) glauben möchte, praktisch aber kaum bezahlt werden.
"Streitwert gedeckelt, kein Mandat für Vergleich für Geschädigte"
Das RVG trifft zur Musterfeststellungsklage keine Regelung. 48 Abs. 1 S. 2 Gerichtskostengesetz beschränkt allerdings den Streitwert von Musterfeststellungsklagen auf maximal 250.000 Eur. Und zwar unabhängig davon, wie viele Geschädigte sich der Klage anschließen.
Im Fall VW hätte diese Streitwertbeschränkung ohne Berücksichtigung der Anzahl der Geschädigten Anwaltsgebühren für die Anwälte des vzbv von rund 7.000 Euro bedeutet – für die faktische Vertretung von mehreren Hunderttausend Geschädigten, zumindest im Fall eines Vergleichs.
Eine Musterfeststellungsklage kann durch Vergleich beendet werden. Nach§611 Zivilprozessordnung können in dem Vergleich auch die Individualansprüche der registrierten Anmelder mit geregelt werden. Wenn ausschließlich Kläger und Beklagter sich vergleichen, mögen die minimalen RVG-Gebühren ja Sinn ergeben; allerdings "soll" doch nach § 611 Absatz 2 ZPO mehr geregelt werden.
Man muss sich klar machen, dass diese geschädigten Anmelder bis dahin ja gar nicht Gegenstand der Klage sind. Die Klage eines Verbands richtet sich schließlich nur auf eine allgemeine Feststellung, Geld hat davon noch niemand. Im Zuge von Vergleichsgesprächen dagegen sollen die einzelnen Zahlungsansprüche der Betroffenen miterfasst werden.
Aber von den einzelnen Geschädigten haben die Anwälte doch gar kein Mandat.
Richtig, die beteiligten Rechtsanwälte vertreten im Prozess formal nur den Verband. Einen Vergleich aber "sollen" sie dann aber nach § 611 ZPO auch für die Verbraucher mit aushandeln. Anders geht es im Anwaltsprozess schließlich auch gar nicht, sonst spräche für die Verbraucher buchstäblich niemand.
Wenn das nun zum Erfolg führt, also ein Vergleich zustande kommt und die Anmelder ihn annehmen, stellen sich gleich mehrere Fragen: Entsteht dadurch ein gesetzlicher Gebührenanspruch? Und müssen die Anwälte diesen aufgrund des zwingenden Charakters des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes womöglich sogar geltend machen?
"Hunderttausendfache Geschäftsführung ohne Auftrag"
Aber ganz offensichtlich ist es doch genau der Wille des Gesetzgebers, dass die Anwälte – aus Angst vor der gern zitierten "Klageindustrie" – mit einer Musterfeststellungsklage gerade nicht mehr verdienen sollen. Woher sollte denn dann ein gesetzlicher Gebührenanspruch kommen?
Die Anwälte wurden nicht nur im Dienste ihres Auftraggebers, des vzbv, tätig, sondern auch im Sinne und Interesse der Geschädigten. Diese profitieren von den Früchten der anwaltlichen Tätigkeit. In solchen Fällen findet das Rechtsinstitut der Geschäftsführung ohne Auftrag Anwendung und begründet einen gesetzlichen Anspruch des Rechtsanwalts gegen den Anmelder.
Im Ernst? Hunderttausende Geschäfte ohne Auftrag also? Gibt es dazu Rechtsprechung oder zumindest Literatur?
Die Kommentarliteratur zum RVG erkennt unisono die GoA als Grundlage für gesetzliche Gebührenansprüche an. Dass die Zahl groß ist, liegt bei der Musterfeststellungsklage in der Natur der Sache. Die Bedeutung dieser Verhandlung und dieses Vergleichs ist eben entsprechend groß, das Haftungsrisiko auch. Aber die Vergütung soll ausfallen wie bei einem Einzelmandat mit künstlich gedeckeltem Streitwert?
Erkennt die Literatur die GoA auch im Fall der Musterfeststellungsklage an?
Die noch sehr junge Musterfeststellungsklage wird dort naturgemäß noch nicht tiefergehend erörtert und für Rechtsprechung ergab sich offenbar auch noch keine Gelegenheit. Aber die nähere Erörterung in Rechtsprechung und Literatur ist sicher nur eine Frage der Zeit.
Der von Freshfields für VW ebenfalls an den Verhandlungen beteilgte Berufsrechtler Prof. Dr. Martin Henssler von der Universität Köln erklärte auf LTO-Anfrage, er halte das für "nicht ernsthaft vertretbar". Er beruft sich u.a. auf die sog. Erbensucher-Rechtsprechung des BGH und argumentiert, eine Anwendung der GoA-Vorschriften würde deren Sinn und Zweck völlig zuwiderlaufen.
Erbensucher habe ich bereits vor vielen Jahren anwaltlich vertreten und kenne die dortigen Fälle daher recht gut. Das hat mit der Konstellation der Musterfeststellungsklage nun wirklich nichts zu tun.
Wenn man einmal ganz nüchtern und unvoreingenommen die allgemein anerkannten Tatbestandsmerkmale der Geschäftsführung ohne Auftrag auf unsere Konstellation überträgt, ist das ziemlich eindeutig. Die Anwälte werden auch im Interesse der Verbraucher tätig, dieses sog. auch fremde Geschäft genügt. Vorher gibt es kein Mandat, deswegen "ohne Auftrag". Aber doch spätestens mit Vergleichsannahme.
Und was ist mit Hensslers Argument, es liege gerade keine Ausnahmekonstellationen vor, in der man schnell handeln müsse, sondern alle potenziell Geschädigten seien verfügbar. Und diese hätten, so Henssler, ja gerade keinen Anwalt kostenpflichtig mit der Verfolgung ihrer Interessen beauftragen, sondern sich ohne Risiko der MFK anschließen wollen. Das lässt sich hören, oder?
Was Martin Henssler, immerhin einer der renommiertesten deutschen Berufsrechtler, sagt, lässt sich immer hören. Aber niemand in der juristischen Literatur behauptet, dass Geschäftsführung ohne Auftrag nur bei unvorhersehbaren akuten Notlagen Anwendung finden könnte. Das ist wohl ein wenig vom gewünschten Ergebnis her argumentiert. Und spätestens, wenn der Anmelder zur Musterfeststellungsklage sich durch Annahme des Vergleichs die Verhandlungserfolge der Anwälte zu eigen macht, wovor sollte er dann geschützt werden?
Unterstellen wir mal dem Grunde nach eine GoA. Wie wäre Ihres Erachtens die Höhe der Vergütung für die in diesem Sinn nicht beauftragten Anwälte zu bemessen, die nach § 683 BGB zu vergüten sind "wie ein Beauftragter"?
Die gebührenrechtlichen Kommentare sind sich darin einig, dass auf Basis einer Geschäftsführung ohne Auftrag die normalen Anwaltsgebühren entstehen. Das wäre im Fall der Musterfeststellungsklage des vzbv gegen VW eine Geschäftsgebühr auf Basis des jeweiligen Streitwerts und mit einem gesetzlichen Rahmen zwischen 0,5 und 2,5.
Eine Verfahrensgebühr dürfte hingegen regelmäßig nicht anfallen, wenn der Vergleich – wie im Fall vzbv gegen VW - außergerichtlich geschlossen wird und der Verband daraufhin die Klage zurücknimmt.
Kamen Sie so auf die vielzitierten 50 Millionen Euro Anwaltskosten, welche die vzbv-Anwälte zunächst gefordert hatten?
Ich habe keine Beträge berechnet, sondern in den Verhandlungen nur das Gebührensystem als solches erläutert. Wenn man allerdings durchschnittliche Streitwerte der Dieselkläger zugrunde legt und an den untersten Rand dieses Rahmens geht, sind das immer noch mehrere hundert Euro pro Einzelfall. Über die genaue Höhe hätte man sich zum Zwecke der Kostenerstattung verständigen können, die Anwälte von Russ hätten hier im Vergleichswege und in Anbetracht der rechtlichen Unsicherheit bloße 120 Euro pro Einzelfall akzeptiert.
Angesichts von über 400.000 Betroffenen, von denen über 260.000 ein Vergleichsangebot bekommen, wäre das für die gesamte Abwicklung auf etwa 50 Mio. Euro hinausgelaufen. Allerdings brutto, und von den rund 42 Mio. Euro netto sollten auch die gesamte technische Abwicklung des Vergleichs für Hunderttausende Kläger sowie die Zahlungsüberwachung bezahlt werden. Der von VW eingeschaltete Anbieter hatte allein für die IT-gestützte, nichtjuristische Tätigkeit schon fast 20 Mio. Euro veranschlagt – ohne Garantie, dass der Kostenvoranschlag bei Durchführung nicht deutlich überschritten worden wäre.
Wohlgemerkt: Die Anwälte von Russ wollten sich damit vor allem berufsrechtlich korrekt verhalten und keine verbotene Gebührenunterschreitung begehen. Das RVG sieht für die Geschäftsgebühr eine Untergrenze von 0,5 vor, ein Verzicht ist nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und auch für die Ausfüllung des Gebührenrahmens schreibt §14 RVG die Kriterien vor. Dass es nicht um das große Geldverdienen ging, zeigt sich doch schon in dem Umstand, dass Russ angekündigt hatte, etwaige Gewinne restlos für gemeinnützige Zwecke zu spenden.
"Insgesamt eine Zumutung, den Anwälten Sonderopfer abzuverlangen"
Werden sich so, wie das Gesetz es derzeit regelt, überhaupt künftig Anwälte finden, die Verbraucherverbände in Musterfeststellungsklagen vertreten?
Der Gesetzgeber verfolgt in den vergangenen Jahren eine Tendenz, Streitwerte künstlich niedrig anzusetzen. Dieser ganze Ansatz ist natürlich verfehlt. Diese Werte sind eine objektive – wenn auch manchmal schwierig zu ermittelnde – Größe.
Für die Musterfeststellungsklage gilt in der Tat: Falls man die Geschäftsführung ohne Auftrag ablehnt, steht die Vergütung der Anwälte in überhaupt keinem vernünftigen Verhältnis mehr zur Aufgabe und dem – wie hier – hunderttausendfachen Haftungsrisiko. Dafür werden sich auch in Zukunft vermutlich noch Anwälte finden, die das aus echter Überzeugung, aus Berufung für den Kampf um das Recht und für die Rechte der Schwachen, vielleicht auch für Ruhm und Ehre tun werden.
Aber es ist insgesamt eine Zumutung, wenn der Gesetzgeber einen Gebührenrahmen so ausgestaltet, dass der Anwaltschaft Leistungen als Sonderopfer abverlangt werden. Entweder verzichtet man völlig auf gesetzliche Gebühren und überlässt das Feld der Aushandlung angemessener und leistungsgerechter Honorare - oder der Gesetzgeber gibt einen Rahmen vor, der dann aber eine qualitativ überzeugende Arbeit auch angemessen kompensieren muss. Die jetzige Lösung bietet das alles nicht.
"Kostenschuldner sollte sein, wer den Vergleich annimmt"
Was wäre Ihr Vorschlag für eine Neuregelung?
Wenn das Gesetz in § 611 ZPO schon den Vergleich unter Einbeziehung der Individualansprüche der Anmelder vorsieht, dann sollte damit eine im RVG ausdrücklich geregelte Gebühr korrespondieren. Zu tragen wäre sie nicht vom klagenden Verband, zumal der mit den Individualansprüchen auf Zahlung nichts zu tun hat. Kostenschuldner sollte der Anmelder sein, der den Vergleich annimmt. Natürlich muss der darüber belehrt werden, welche Kostenfolge die Annahme konkret hat.
Da die Musterfeststellungsklage auf Massenverfahren ausgelegt ist, wird ein Vergleich oft Fallgruppen bilden und abstrakte Regelungen enthalten. Da mag eine niedrige Gebühr für jeden Einzelfall ausreichen. Aber es kommt natürlich auch darauf an, ob sich die anwaltliche Tätigkeit auf den Vergleichsabschluss beschränkt oder ob sie danach noch Abwicklungshandlungen umfassen soll. Vor diesem Hintergrund ist ein Gebührenrahmen nach dem System der Geschäftsgebühr gar nicht so fernliegend.
Eine gesetzliche Regelung müsste allerdings auch den Abschluss eines echten gerichtlichen Vergleichs erfassen, auch wenn der angesichts der praktischen Schwierigkeiten eher selten zum Tragen kommen wird.
Insgesamt ist meine Hoffnung darauf, dass sich die Bundesregierung nun endlich der Belange der Anwaltschaft annimmt, allerdings gering. In Sonntagsreden das "Organ der Rechtspflege" mit Weihrauch einzunebeln, ist den Politikern traditionell eher vertraut als eine ernsthafte Anstrengung, um diesem Grundpfeiler des Rechtsstaats dann auch zu einer auskömmlichen Betätigung zu verhelfen.
Herr Professor Römermann, vielen Dank für das Gespräch.
Berufsrechtler zur Vergütung bei Musterfeststellungsklagen: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40645 (abgerufen am: 19.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag