BGH zur Aktenführung von Rechtsanwälten: Balan­ceakt zwi­schen Auf­be­wah­rung und Her­aus­gabe

von Tim Günther

09.11.2020

Ein Rechtsanwalt muss für jeden Fall eine Handakte führen und diese sechs Jahre lang aufbewahren. Wie lange ihn die zivilrechtliche Pflicht zur Herausgabe trifft, ist laut BGH davon jedoch unabhängig, wie Tim Günther erläutert.

Es war seit jeher eine Gradwanderung zwischen den zivilrechtlichen Grundsätzen der Geschäftsbesorgung und der berufsrechtlichen Verpflichtung zur Handaktenführung. Nach § 50 Abs. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) muss der Rechtsanwalt durch das Führen von Handakten ein geordnetes und zutreffendes Bild über die Bearbeitung seiner Aufträge geben können. Er hat die Handakten für die Dauer von sechs Jahren aufzubewahren. Die Frist dafür beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Auftrag beendet wurde.

In zivilrechtlicher Hinsicht ergibt sich die Herausgabepflicht der Handakte aus den §§ 675, 667 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Nach § 667 BGB ist der Beauftragte verpflichtet, "dem Auftraggeber alles, was er zur Ausführung des Auftrags erhält und was er aus der Geschäftsbesorgung erlangt", herauszugeben.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich nun mit der Frage befasst, wann und nach welchen Vorschriften ein solcher Herausgabeanspruch verjährt (Urt. v. 15.10.2020, Az. IX ZR 243/19). Bisher war umstritten, ob für die Herausgabe von Handakten die dreijährige Regelverjährung des Zivilrechts oder eine längere Frist aus den berufsrechtlichen Vorschriften gilt.   

In dem zu entscheidenden Fall hatte eine spätere Insolvenzschuldnerin im Jahre 2011 eine Kanzlei mit der Entwicklung eines Sanierungskonzeptes beauftragt. Der Insolvenzverwalter reichte im Januar 2017 eine Klage auf Herausgabe der zuvor verweigerten Handakte ein. Er berief sich vor allem darauf, dass in der Mandatsvereinbarung eine Aktenaufbewahrung von zehn Jahren seitens der Kanzlei zugesichert wurde.

Verjährung richtet sich nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften

Der BGH stellt nun klar: Der Anspruch des Mandanten auf Herausgabe der Handakte verjährt nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften. Die berufsrechtlichen Bestimmungen über die Länge der Aufbewahrungspflicht (früher: zehn Jahre; heute: sechs Jahre nach Mandatsbeendigung) haben auf den Lauf der Verjährung keinen Einfluss.

Der Anspruch unterliegt der dreijährigen Verjährung nach § 195 BGB. Die Frist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden und fällig ist. Der Anspruch auf Herausgabe der Handakte wird spätestens mit Beendigung des Mandatsverhältnisses fällig. Dieser Zeitpunkt war in dem zu entscheidenden Fall der Sommer 2012, als das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Anspruch verjährt demnach Ende 2015.

Auch die Berufung auf den § 115 Abs. 2 der Insolvenzordnung (InsO) half dem Insolvenzverwalter nicht. Danach hat der Beauftragte, wenn mit dem Aufschub andernfalls eine Gefahr verbunden ist, die Besorgung des übertragenen Geschäfts fortzusetzen, bis der Insolvenzverwalter anderweitig Fürsorge treffen kann. Dieser Einwand schlägt aber bereits deshalb nicht durch, da den Insolvenzverwalter keine eigene materiell-rechtliche Aufbewahrungspflicht der Handakte des Rechtsanwaltes trifft.

Berufsrechtliche Regelung unbeachtlich

Auch das Berufen auf § 695 BGB, wonach die Verjährung des Anspruchs auf Rückgabe der Sache erst mit der Rückforderung beginne, führte nicht zum Erfolg. Die Bestimmung regelt insoweit nur den Sonderfall, dass der Rückforderungsanspruch des Hinterlegers bereits mit Hingabe der Sache entsteht und die Verjährung damit sofort beginnt. Diese Interessenlage ist mit der des Mandanten eines Rechtsanwalts nicht vergleichbar, da hier der Anspruch erst zu dem späteren Zeitpunkt der Mandatsbeendigung fällig wird.

Auch seien die berufsrechtlichen Regelungen zur Aufbewahrungsplicht von sechs Jahren für das Herausgabeverlangen des Mandanten unbeachtlich. Der BGH stellt klar, dass sich aus den Regelungen des § 50 BRAO kein hinreichender Grund ergebe, den Herausgabeanspruch des Mandanten als verhaltenen Anspruch oder die Aufbewahrungsfrist als die Verjährung verdrängende materiell-rechtliche Ausschlussfrist einzuordnen.

Auch wenn die berufsrechtlichen Regelungen über ihren rein berufsrechtlichen Gehalt hinaus die materiell-rechtliche Rechtslage des Mandatsverhältnisses beeinflussen, folgt daraus nicht, dass der Lauf der Verjährung des Herausgabeanspruchs abweichend von § 199 BGB zu bestimmen ist. Die berufsrechtliche Aufbewahrungspflicht behält ihre eigenständige Bedeutung und hat vor allem eine andere Intention: Hierdurch soll sich der Rechtsanwalt in einem etwaigen Haftungsprozess verteidigen können, selbst noch Vergütungen einklagen können oder datenschutzrechtliche Vorgaben erfüllen.

Wen trifft die Pflicht zur Herausgabe?

Die Handakte muss daher im Rahmen der dreijährigen Verjährungsfrist heraus verlangt werden. Selbst wenn der Rechtsanwalt die Akte noch länger aufbewahrt hat, braucht er sie dann nicht mehr herausgeben. Dabei stellt sich aber die Frage, wer eigentlich für die Aktenaufbewahrung verantwortlich ist.

Die Verpflichtung zur Aufbewahrung der Handakte trifft grundsätzlich den Berufsträger selbst. Sofern das Mandat jedoch einer Berufsausübungsgemeinschaft übertragen wurde und diese nicht aufgelöst wird, trifft die Pflicht auch weiterhin die bestehende Kanzlei und nicht den ausgeschiedenen oder gewechselten Rechtsanwalt.

In der Praxis sehen sich der Einzelrechtsanwalt oder die Kanzlei häufig - vor allem zum Jahresende bei Sozietätswechseln - mit einem Herausgabeverlangen von dem das Mandat übernehmenden Rechtsanwalt konfrontiert. Dem das Mandat übernehmenden Rechtsanwalt steht jedoch kein eigenständiger Anspruch zu. Er kann lediglich im Auftrag des Mandanten den Herausgabeanspruch des Mandanten geltend machen.

Die Herausgabe darf lediglich verweigert werden, wenn die Gebühren und Auslagen noch nicht beglichen sind, es sei denn, diese Zurückbehaltung wäre im Einzelfall unangemessen. Zudem muss nichts herausgegeben werden, was sich aus der Korrespondenz zwischen Rechtsanwalt und Mandant bereits ergibt oder wenn der ehemalige Mandant bereits alle Unterlagen in Abschrift erhalten hat.

Diese - in der Literatur kaum behandelte und in der Praxis häufig für Streit sorgende - Frage soll durch den jüngst vorgelegten Gesetzentwurf zur Neuregelung des anwaltlichen Gesellschaftsrechts beseitigt werden: Danach soll die Berufsausübungsgemeinschaft die berufsrechtliche Pflicht zur Handaktenführung auferlegt werden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Neuregelung auch bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens behaupten kann. Der Gesetzgeber sollte zudem die Entscheidung des BGH zum Anlass nehmen und in § 50 BRAO klarstellend einfügen, dass sich die Verjährung unabhängig von den berufsrechtlichen Regelungen aus den Verjährungsnormen des BGB ergibt.

Rechtsanwalt Tim Günther ist Partner der Kanzlei Jähne Günther Rechtsanwälte PartGmbB - Wirtschafts- und Berufsrecht - und u.a. Autor des BeckOK zur BRAO

Zitiervorschlag

BGH zur Aktenführung von Rechtsanwälten: . In: Legal Tribune Online, 09.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43362 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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