Trotz 23 Prozent nicht registrierter Anwälte: Bun­des­re­gie­rung hält Nut­zer­ak­zeptanz für das beA für sehr hoch

von Pia Lorenz

20.11.2020

Das BMJV wertet die Anmeldung von 77 Prozent der Anwaltschaft beim Anwaltspostfach als Erfolg. Für die FDP ist das rund ein Jahr vor der Nutzungspflicht "ein schlechter Witz", für die Grünen ein Grund mehr, die Nutzungspflicht zu verschieben. 

Die Bundesregierung beurteilt die Nutzerakzeptanz des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) als "inzwischen sehr hoch". Das ergibt sich aus einem Bericht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) vom 18. November, der am Mittwoch im Rechtsausschuss des Bundestags vorgestellt wurde und LTO vorliegt. Der Bericht geht auf eine Nachfrage der FDP-Fraktion zur Nutzerakzeptanz und geplanten Weiterentwicklung des beA zurück. Anlass der Anfrage sind die bekanntgewordenen Zahlen zur Erstregistrierung in dem System, über die LTO berichtete. 

Laut einer Auswertung der für den Betrieb des beA verantwortlichen Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) waren am 29. Oktober 2020 - über zwei Jahre nach dem Start des Postfachs - bundesweit nur 77 Prozent aller beA-Postfächer “erstregistriert”, also angemeldet. Mit rund 23 Prozent hat fast ein Viertel der deutschen Anwältinnen und Anwälte bislang also gar keinen Zugriff auf das beA. Dabei unterliegen alle Anwälte und Unternehmensjuristen seit 2017 der sog. passiven Nutzungspflicht, müssen also über das elektronische System eingehende Schriftstücke zur Kenntnis nehmen und gegen sich gelten lassen. 

Das BMJV bewertet die Zahl von 77 Prozent erstregistrierten Nutzern dennoch als Erfolg. In ihrem Bericht weist die Bundesregierung darauf hin, dass die Quote unter den niedergelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mit 81 Prozent "sogar noch höher" liege. Der abweichende Wert erklärt sich dadurch, dass vor allem die Juristinnen und Juristen in Unternehmen den Gesamtwert nach unten ziehen: Von den Syndikusanwälten haben sich bisher erst 54 Prozent beim beA angemeldet. Als Beleg für die "sehr hohe" Nutzerakzeptanz verbucht die Bundesregierung ausweislich ihres Berichts auch die "wachsende Anzahl der über das beA versandten und empfangenen Nachrichten". Derzeit würden monatlich rund 1,5 Millionen Nachrichten aus dem beA versandt, ebenso viele Nachrichten würden über das System empfangen. 

FDP: "'Sehr hohe Nutzerakzeptanz' ja wohl ein schlechter Witz"

Für Rechtsanwalt Michael Schinagl gibt die per beA versandte Anzahl der Nachrichten gar keinen Aufschluss über die Nutzerakzeptanz. Der Berliner Anwalt ist einer der Prozessbevollmächtigten einer Klage gegen das beA, die hauptsächlich eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung des beA erzwingen will und - nach Abweisung durch den Anwaltsgerichtshof in Berlin - derzeit beim Bundesgerichtshof (BGH) liegt (Az. AnwZ (Brfg) 2/20). Schinagl hat bereits mehrere IFG-Anträge bei der BRAK gestellt und betreibt auf seiner Webseite einen eigenen Bereich, in dem er über das beA berichtet. 

“Eingehende Nachrichten lassen sich angesichts der passiven Nutzungspflicht nicht vermeiden. Wenn überhaupt, dann wären ausgehende Nachrichten aussagekräftig, doch sind das oft nur angeforderte elektronische Empfangsbekenntnisse", so der Anwalt gegenüber LTO. Bei einer elektronischen Zustellung durch ein Gericht sind die Anwältinnen und Anwälte verpflichtet, dieses elektronisch zurückzusenden. Eingehende Nachrichten bezeichnet Schinagl "zu mindestens einem Fünftel als 'Selbstbefüllung'". So verschickten die BRAK wie auch lokae Anwaltskammern ihre Newsletter über das beA. Objektiv betrachtet seien die Zahlen gering, meint Schinagl.  

Auch Kathrin Helling-Plahr von der FDP hat für die positive Bilanz aus dem BMJV wenig Verständnis. "Dass die Bundesregierung von einer 'sehr hohen' Nutzerakzeptanz des beA spricht, soll wohl ein schlechter Witz sein", sagte die Fachanwältin für Medizinrecht, die Mitglied des Rechtsausschusses des Bundestags ist, gegenüber LTO

Rechtsanwältin Katja Keul, rechtspolitische Sprecherin der Grünen im Rechtsausschuss, erklärte den Bericht der Bundesregierung ebenfalls für "wenig überzeugend". Nicht einmal 80 Prozent Erstregistrierungsquote, "das ist doch keine Erfolgsmeldung", sagte die Familienrechtlerin gegenüber LTO. Der rechtspolitische Sprecher der AfD, Stephan Brander, bezeichnete die Zahlen gar als "trotz berufsrechtlichen Zwangs, hoher Kosten und intensiver Bewerbung durch BRAK und DAV sehr überschaubar und eher peinlich."

BRAK: Unter den Nicht-Registrierten viele, die nicht als Anwalt arbeiten

Die für das beA verantwortliche BRAK zeigte sich ebenfalls nicht ganz so optimistisch wie die Bundesregierung. "Das ist nicht zum Hurra-Schreien", räumte Julia von Seltmann ein, die bei der BRAK u.a. den Bereich elektronischer Rechtsverkehr und beA verantwortet. 

Die BRAK nimmt aber vor allem die 81 Prozent der erstregistrierten niedergelassenen Anwälte in den Blick. "Wir gehen davon aus, dass das diejenigen sind, die wirklich forensisch tätig sind, während sich unter den noch nicht Registrierten viele Anwältinnen und Anwälte befinden dürften, die faktisch nicht als solche arbeiten". Der BRAK lägen keine Rückmeldungen aus der Justiz oder Anwaltschaft vor, "dass reihenweise Rechtsanwälte ihre Nachrichten nicht zur Kenntnis nähmen und in die Haftung gerieten", so von Seltmann. 

Für den Berufsrechtsverstoß aber, den damit weiterhin fast ein Viertel der deutschen Anwältinnen und Anwälte fortgesetzt begeht, "hält sich unser Verständnis in Grenzen", wurde von Seltmann für die BRAK deutlich. "Das ist ja nicht einfach ein bockiges Verhalten, sondern da hängt eine Haftung für den Mandanten dran."

Berufsrechtsverstöße derzeit kaum verfolgt

Wer als Anwältin oder Anwalt nicht über ein empfangsbereites beA verfügt, verstößt gegen seine berufsrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines Postfachs sowie zur Entgegennahme von Schriftstücken über das beA aus § 31a Abs. VI Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Im April 2020 wurde eine Anwältin, die sich trotz Aufforderung weigerte, sich im beA zu registrieren, vom Anwaltsgericht in Nürnberg mit einem Bußgeld von 3.000 Euro belegt.

Für von Seltmann gibt es keinen Grund, die Erstregistrierung nicht durchzuführen: “Es gibt Erklärvideos und einen Support. Der unterstützt und schaltet sich notfalls auch auf, um bei der Erstregistrierung zu helfen.” 

Aktiv verfolgt werden die Berufsrechtsverstöße derzeit eher selten. Die BRAK ist dafür nicht zuständig. Die regionalen Anwaltskammern forderten ihre Mitglieder verstärkt dazu auf, sich beim beA zu registrieren, so von Seltmann. Gezielt diejenigen unter ihnen anzuschreiben, die sich noch nicht registriert haben, das machten bisher aber vor allem kleinere regionale Anwaltskammern. Bei konkreten Beschwerden von anderen Anwälten oder aus der Justiz würden die Kammern aber aktiv. 

Nutzungspflicht erst ab 2025?

Helling-Plahr von der FDP sieht dringenden Handlungsbedarf. Ab dem 1. Januar 2022 muss bundesweit sämtliche Korrespondenz mit den Gerichten nur noch über das beA geführt werden. "Es ist fünf vor zwölf und die Bundesregierung ist noch nicht einmal aus dem Tiefschlaf erwacht", so die Abgeordnete gegenüber LTO. "Die Bundesregierung sollte sich schnellstmöglich überlegen, worin die mangelnde Akzeptanz begründet ist und versuchen gegenzusteuern. Eine grundsätzliche Umstrukturierung der Sicherheitsarchitektur hin zu einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung könnte mehr Vertrauen schaffen." 

Mehr Sicherheit für das System durch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, das will auch die Gruppe von Anwälten um Schinagl erreichen, die derzeit beim BGH klagt. Schinagl trat am vergangenen Montag auch als Sachverständiger für die Grünen im Rechtsausschuss auf. Der Anwalt unterstützt das Anliegen der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, die aktive Nutzungspflicht auf 2025 zu verschieben. Solange die digitalen Zugangswege – faktisch also das beA als einziger zugelassener sicherer Übermittlungsweg i.S.v. § 130a Zivilprozessordnung - nicht sicher, verlässlich und einfach seien, sollten andere Zugangswege zum Recht nicht abgeschnitten werden, heißt es in seiner Stellungnahme.

Die Nutzung des beA setze eine gute Internetverbindung voraus, die insbesondere in ländlichen Regionen Deutschlands 2022 noch nicht gewährleistet sei, begründen die Grünen ihren Antrag, der auch auf die noch nicht registrierten Anwältinnen und Anwälte Bezug nimmt. Das System habe sich zudem als sehr störungsanfällig erwiesen. Und schließlich obliege den Anwälten bei einer versäumten Frist die Beweislast dafür, dass das beA unverschuldet nicht funktioniert habe, erläuterte die rechtspolitische Sprecherin Katja Keul gegenüber LTO. Sie legt Wert darauf, dass die Grünen den elektronischen Rechtsverkehr nicht verhindern wollten, sondern verbessern: "Bevor das System sich nicht bewährt und in der Praxis ausreichend Akzeptanz gefunden hat, sollten wir nicht die Alternativen dazu verbieten."

BRAK fürchtet keine Überlastung des beA

Unterstützer haben die Grünen dafür allerdings offenbar kaum. Der rechtspolitische Sprecher der SPD, Johannes Fechner, erklärte, angesichts des guten Werts von fast 80 Prozent Erstregistrierungen sei es nicht notwendig, die aktive Nutzungspflicht zu verschieben. In der Opposition zeigte sich ausschließlich Die Linke aufgeschlossen gegenüber dem Vorschlag. "Die möglichst zeitnahe Umstellung auf den elektronischen Rechtsverkehr halte ich für eine sinnvolle Sache", teilte deren rechtspolitischer Sprecher Friedrich Straetmanns auf LTO-Anfrage mit. "Die immer noch zu niedrigen Registrierungszahlen sind allerdings ein nicht zu ignorierendes Problem. Ich halte eine moderate Verschiebung des Beginns der aktiven Nutzungspflicht für angemessen."

Helling-Plahr von der FDP erklärte hingegen, die Mängel in der Architektur des beA müssten behoben werden. "Eine einfache Verschiebung ist dabei nicht zielführend, wenn die Zeit nicht zur Behebung der Mängel genutzt wird. Dazu besteht derzeit leider keine Bereitschaft." AfD-Politiker Brandner sagte, die AfD wolle den Nutzungszwang abschaffen. "Was soll eine Verschiebung um ein paar Jahre bringen?"

BRAK-Präsident Dr. Ulrich Wessels zeigte sich am Montag im Rechtsausschuss vom Antrag der Grünen gar "enttäuscht". Die beA-Beauftragte von Seltmann erklärte, man solle am Zeitplan festhalten, auch wenn die Anwälte damit gegenüber der Justiz in Vorleistung gehen müssten. "Wenn wir nicht irgendwann anfangen, können wir auch nicht gemeinsam erkennen, wo noch etwas nötig ist." Man könne sich auf die Last auf dem System nicht vorbereiten und auch die Justiz könne sich nicht umstellen. 

Eine Überlastung des Systems bei voller Last fürchte die BRAK aber ebenso wenig wie Haftungsfallen für die Anwälte. "Alle höchstrichterlichen Entscheidungen fallen bislang zugunsten der Anwälte aus", so von Seltmann. Technisch arbeite die BRAK mit dem neuen beA-Anbieter Wesroc daran, das beA bis zum 1. Januar 2022 sicher aufzustellen. Eine Umfrage unter Anwältinnen und Anwälten zur Anzahl der von ihnen verschickten Nachrichten solle noch klarer machen, wie hoch die zu erwartende Systemlast in etwa ausfallen werde. “Wir sollten besser jetzt starten, es versuchen – und wenn am Anfang etwas schief läuft, dann müssen wir es eben reparieren."

Zitiervorschlag

Trotz 23 Prozent nicht registrierter Anwälte: . In: Legal Tribune Online, 20.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43499 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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