Ein BGH-Beschluss sorgt für Empörung: Danach muss selbst einem nicht Deutsch sprechenden Beschuldigten, dem schwerste Verbrechen vorgeworfen werden, vor Vernehmungen nicht zwingend von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden.
"Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel. Dass ein entsprechender Gesetzentwurf im Bundesministerium der Justiz nicht auf die lange Bank geschoben werden sollte, fordern jetzt die Anwaltsverbände. Aus aktuellem Anlass: Denn am Mittwoch veröffentlichte der Bundesgerichtshof (BGH) eine Entscheidung, die sich mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers im strafrechtlichen Vorverfahren befasst - und die nach Auflassung von Strafverteidigern den Gesetzgeber zum unverzüglichen Handeln aufruft (Beschl. v. 05.04.2022, Az. 3 StR 16/22).
Im konkreten Fall war einem später u.a. wegen Beihilfe zum Mord und Kriegsverbrechen zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilten Syrer vor zwei polizeilichen Vernehmungen (die im Beisein eines Dolmetschers stattfanden), kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden.
Der Mann hatte einen solchen – wie nach neuer Rechtslage selbst im Fall der notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs.1 Strafprozessordnung (StPO) erforderlich – nach entsprechender Belehrung nicht beantragt. Aber auch von Amts wegen sah die Staatsanwaltschaft trotz der schweren Tatvorwürfe und mangelnder Deutschkenntnisse des Beschuldigten keinerlei Veranlassung, dem Mann einen Verteidiger zur Seite zu stellen. Von der grundsätzlich in § 141 Abs. 2 S. 1 Ziff. 3 StPO vorgesehenen Möglichkeit, dem Beschuldigten im Vorverfahren von Amts wegen einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann, machten die Ermittler keinen Gebrauch.
BGH: "Notwendige Verteidigung kein Grund zur Pflichtverteidigerbestellung"
Und der BGH sah darin nun auch im Revisionsverfahren kein Problem und schon gar keinen Rechtsverstoß: Auch ein Fall der notwendigen Verteidigung gebiete nun einmal für sich genommen keine Pflichtverteidigerbestellung. "Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen", so das Gericht. Diese habe hier nicht vorgelegen.
Von Bedeutung – nicht zuletzt auch für Examenskandidatinnen und -kandidaten – ist der Beschluss des BGH deshalb, weil er sich erstmals ausführlich mit einem wichtigen Aspekt des seit Dezember 2019 neu geregelten Rechts der notwendigen Verteidigung nach den §§ 140 ff. StPO befasst. Dieses sieht zwar grundsätzlich einen früheren Zugang zum Rechtsbeistand bereits im Ermittlungsverfahren vor.
Gleichwohl hatten Strafverteidiger im Rahmen der damaligen Bundestagsanhörung die Neuregelungen massiv kritisiert. Die dem Gesetz zugrunde liegende EU-Prozesskostenhilferichtlinie sei vom nationalen Gesetzgeber nur unzureichend umgesetzt worden, die Neuregelungen führten zum Abbau von Verfahrensgarantien für Beschuldigte in Strafverfahren. Notwendige Verteidigung, so die Kritik der Verteidiger, diene nicht nur dem Schutz des Beschuldigten, sondern liege im gesellschaftlichen Interesse und dürfe deshalb nicht allein von einem Antrag des Beschuldigten abhängig gemacht werden.
Pflichtverteidiger von Amts wegen nur bei geistiger Umnachtung?
In seinem Beschluss führt der BGH nun jedoch aus, dass für ihn die §§ 140 ff. StPO auch mit dem kritisierten Antragerfordernis dem Gebot der fairen Verfahrensgestaltung" genügten. Bei der Frage, ob sich der Beschuldigte noch selbst verteidigen könne, habe der Gesetzgeber vor allem auf dessen "geistigen Zustand" abgestellt. Dass dieser der deutschen Sprache nicht mächtig sei, falle nicht ins Gewicht: "Fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen rechtfertigen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter gemäß § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann", so der BGH.
Und die Karlsruher Richterinnen und Richter gehen noch weiter: Selbst für den Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben sei, ergebe sich daraus nicht generell deren Unverwertbarkeit. Schließlich kenne das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz, "wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht."
Ein solches sei zudem verfassungsrechtlich nur in besonderen Ausnahmefällen geboten: "Insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind". Im Falle des verurteilten Syrers sei dies nicht der Fall gewesen. Es sei auch nicht ersichtlich, warum sich dieser nicht selbst und ohne Anwalt hätte verteidigen können. "Wie bereits ausgeführt, reichen dafür grundsätzlich weder etwaige Sprachunkenntnisse noch die Schwere der Tatvorwürfe oder Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung aus", so der BGH.
DAV und RAV fordern Gesetzgeber zum Handeln auf
Strafverteidiger sehen sich nunmehr in ihrer Kritik aus dem früheren Gesetzgebungsverfahren voll bestätigt:
"Mit dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass es den Gegnern eines garantierten frühen Rechtsschutzes beschuldigter Bürger gelungen ist, diesen bei der Umsetzung der EU-Prozesskostenhilferichtlinie zu verhindern", sagt das Mitglied im Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Stefan Conen, gegenüber LTO.
Der Strafverteidiger wirft Deutschland vor, bei der Umsetzung der EU-Richtlinie geschludert zu haben: "Auch künftig wird es entgegen der Intention dieser Richtlinie prozessual regelmäßig folgenlos bleiben, wenn selbst mit schwersten Vorwürfen festgenommene Beschuldigte staatlicherseits keinen Anwalt bei der polizeilichen Einvernahme beigeordnet bekommen. Die EU-Richtlinie wollte eben dem vorbeugen und garantierte frühe Verteidigung als europäischen Menschenrechtsmindeststandard gewährleistet sehen", so der Anwalt.
Wie auch sein RAV-Kollege, der Bremer Rechtsanwalt Prof. Helmut Pollähne, fordert Conen gegenüber LTO die Ampel auf, dem Auftrag aus dem Koalitionsvertrag schnell nachzukommen: "Die vorliegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs mahnt hier zu einer baldigen Umsetzung dieses Vorhabens."
BGH zur notwendigen Verteidigung im Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 27.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48582 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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