Ein Strafrechtsfall verschafft dem BGH Gelegenheit, grundsätzlich zu entscheiden, wann Anwälte in einer Kanzlei selbstständig arbeiten und wann sie angestellt sind. Was aus dem Urteil folgt und wann es teuer wird.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat einen Strafrechtsfall zum Anlass genommen, die Abgrenzung von selbstständigen zu angestellten Rechtsanwälten in einer Kanzlei herauszuarbeiten (Urt. v. 8.03.2023, Az. 1 StR 188/22). Er knüpft in seiner nun veröffentlichten Entscheidung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) an.
Entscheidend komme es auf das Gesamtbild der Arbeitsleistung an, heißt es im Leitsatz. Die bekannten Abgrenzungskriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung könnten wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren. Deshalb sei dann vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen.
Wie kam der Fall zum BGH? Das Landgericht (LG) Traunstein hatte den angeklagten Rechtsanwalt wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Strafgesetzbuch – StGB) zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Daneben hatte es eine Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 Euro verhängt und die Einziehung von Taterträgen in Höhe von rund 119.000 Euro angeordnet.
Zwölf selbstständige Rechtsanwälte unter einem Dach beschäftigt
Nach den Feststellungen des LG hatte der Anwalt zwölf Rechtsanwälte zum Schein als selbstständige freie Mitarbeiter beschäftigt, die tatsächlich bei ihm abhängig beschäftigt waren. Er hatte mit seinen Mitarbeitern vereinbart, dass diese als freie Mitarbeiter für die Kanzlei tätig werden, ihre Sozialabgaben selbst abführen, eigenes Personal beschäftigen und selbst werben durften. Außerdem waren sie berechtigt, das vereinbarte Jahresgehalt in monatlichen Teilbeträgen abzurufen. Allerdings sah die Vereinbarung vor, dass die Beschäftigung eigenen Personals der Zustimmung der Kanzlei bedurften und Werbemaßnahmen abzustimmen und zu genehmigen waren.
Während der Beschäftigung erbrachten die Rechtsanwälte ihre Tätigkeit wie von dem angeklagten Anwalt erwartet und eingefordert in den Kanzleiräumlichkeiten. Der Angeklagte stellte das Büro, Personal und Infrastruktur zur Verfügung, ohne die Mitarbeiter an den Kosten dafür zu beteiligen. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte einmal pro Monat anteilig per Rechnung ab, unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz.
Der BGH bestätigte nun die Einschätzung des Landgerichts, das die Tätigkeit der zwölf Anwälte als abhängige Beschäftigung einzustufen sei. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb sei dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei bei Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber sei eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, eine eigene Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet.
Wann arbeitet ein Anwalt in der Kanzlei frei?
Aus dem Berufsbild des Rechtsanwalts und den Regelungen der Bundesrechtanwaltsordnung (BRAO) ergebe sich für die Abgrenzung nichts wesentlich anderes, so der BGH. Zwar könne die Eigenart der Anwaltstätigkeit als eine Dienstleistung höherer Art mit einer sachlichen Weisungsfreiheit einerseits und einem weitgehend durch Sachzwänge bestimmten zeitlichen und örtlichen Arbeitsablauf andererseits es mit sich bringen, dass sich das Abgrenzungsmerkmal der äußeren Weisungsgebundenheit so reduziert, dass es eine sichere Unterscheidung zwischen abhängiger und selbstständiger Ausübung nicht mehr erlaubt. Verlieren Kriterien wie Weisungsgebundenheit und Eingliederung im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft, müsse den übrigen Merkmalen aber mehr Gewicht beigemessen werden. Entscheidend sei laut BGH vor allem, ob die Tätigkeit mit einem Verlustrisiko belastet ist oder ob sie lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen ist.
Der BGH sah als Beleg für die abhängige Beschäftigung, dass die Rechtsanwälte als Gegenleistung für ein fest vereinbartes Jahreshonorar ihre volle Arbeitskraft zur Verfügung stellen mussten. Die Möglichkeit, eigenes Personal zu beschäftigen, Mandate außerhalb der Kanzlei zu bearbeiten und Werbung in eigener Sache zu machen, spreche zwar für eine Selbstständigkeit, sei aber durch das Zustimmungserfordernis faktisch wieder ausgehebelt worden. Zudem habe der Anwalt Arbeitszeiten, Ort sowie Art und Inhalt der Tätigkeit der Rechtsanwälte bestimmen können. Schließlich fehle das für höhere Dienste zentrale Unternehmerrisiko. Die Vergütung sei gänzlich unabhängig von Gewinn oder Verlust der Kanzlei. Die bloße Möglichkeit einer Kündigung des Vertrages stelle dagegen kein unternehmerisches Risiko dar.
Im Zweifel Hände weg von freien Mitarbeitern in der Kanzlei?
"Die Entscheidung des BGH ist für die Anwaltschaft neu, sie enthält aber keine grundsätzlich neuen Erwägungen zur Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit zur Selbstständigkeit, vielmehr schließt sich der BGH der Rechtsprechung des BSG an", ordnet der Berliner Rechtsanwalt Jörn Schroeder-Printzen ein, Vorsitzender des Sozialrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Das Bundessozialgericht habe dazu eine 30 Jahre alte gefestigte Rechtsprechung entwickelt, prominent in Fällen von Honorarärzten.
"Entscheidend kommt es auf das Gesamtbild an", so Schroeder-Printzen; "gerade bei Tätigkeiten von höherer Art und Güte stellt sich die Frage der Eingliederung in den Betrieb und wenn das auch noch kein eindeutiges Ergebnis bringt, dann stellt sich die Frage des wirtschaftlichen Risikos; trägt der Anwalt kein wirtschaftliches Risiko, dann ist er unselbstständig." Aus seiner Sicht lautet die Botschaft des BGH sinngemäß: Hände weg von freien Mitarbeitern, sie sind vermutlich Scheinselbstständige, stellt die jungen Anwaltskollegen doch einfach an, dann habt Ihr auch kein strafrechtliches Risiko.
"Das Urteil des BGH zeigt anschaulich, dass die Beschäftigung "freier Mitarbeiter" zur Vermeidung von Angestelltentätigkeiten doch rasch ihre Grenzen erreicht", meint auch Martin Huff, Rechtsanwalt und Autor, langjähriger Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln.
Rechtsprofessor Matthias Kilian, Direktor des Kölner Instituts für Anwaltsrecht, sieht Probleme in mehreren Rechtsgebieten bei mutmaßlich scheinselbstständigen Anwältinnen und Anwälten. Im Arbeitsrecht: Was gilt bei Ende des "freien Mitarbeitsverhältnisses"? Was gilt an Arbeitnehmerrechten etwa im Schwangerschaftsfall? Im Sozialrecht: Wurden Sozialversicherungsbeiträge entrichtet oder müssen sie nachgezahlt werden? Im Arbeitsstrafrecht: "Scheinselbstständigkeit wird seit 2004 als Unterfall der Schwarzarbeit angesehen und das Vorenthalten von Arbeitnehmeranteilen führt dann zur Strafbarkeit nach § 266a StGB", so Kilian. Und nicht zuletzt im Berufsrecht: Liegt eine Beschäftigung zu unangemessenen Bedingungen vor (§ 26 Berufsordnung für Rechtsanwälte, BORA). Aus Kilians Sicht hat der BGH nun aus dem Arbeits- und Sozialrecht bekannte Problematik auf das Strafrecht heruntergebrochen.
Was folgt aus dem BGH-Urteil, wann wird es teuer?
Finanziell lohnen könnte sich das nun für die Betroffenen, meint Schroeder-Printzen, in dem konkreten Fall bekomme der "freie Mitarbeiter" nun nachträglich noch Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung, neben den bereits erworbenen Anwartschaften im anwaltlichen Versorgungswerk. Doppeltes Glück. So wie für den Arbeitgeber doppelte Belastung. So sieht das auch Huff: "Unter Umständen haben die zwölf Rechtsanwälte dann, wenn sie von der Rentenversicherungspflicht zugunsten des Versorgungswerks befreit sind, gegen den Arbeitgeber einen Anspruch gem. § 172a SGB VI auf die Hälfte der Beiträge zum Versorgungswerk. Es wird also insgesamt teuer."
"Der Gesetzgeber ist auf dem Gebiet Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung nur in engen Bereichen tätig geworden, es scheint ordnungspolitisch einen Konsens zu geben, dass es da keinen Bedarf gibt, nachzusteuern", sagt Rechtsanwalt Schroeder-Printzen.
"Rein praktisch hat die freie Mitarbeit in der Anwaltschaft bereits aufgrund gesetzgeberischer Aktivitäten zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit bzw. Schwarzarbeit rund um die Jahrtausendwende an Bedeutung verloren", so Kilian. "Davon einmal abgesehen sind im gegenwärtigen juristischen Arbeitsmarkt Absolventen, anders als zu Zeiten der Juristenschwemmen, naturgemäß auch eher selten gezwungen, sich auf Scheinselbstständigkeit einzulassen."
Wann gilt ein Anwalt als Freiberufler?: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51836 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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