Referentenentwurf zum anwaltlichen Berufsrecht: Fun­da­men­taler Rich­tungs­wechsel im Sinne von Legal Tech

Anwälten soll es künftig erlaubt sein, in gewissem Rahmen Erfolgshonorare zu vereinbaren und Prozesskosten der Mandanten zu übernehmen. Warum dieser BMJV-Vorschlag längst überfällig und zugleich revolutionär ist, erläutert Volker Römermann.

Der am Donnerstag vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) veröffentlichte "Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt" ist ein Stück weit spektakulär und berufsrechtlich von enormer Tragweite.

Rechtsanwälte lügen, betrügen und fälschen Dokumente, um zum Prozesserfolg zu gelangen. Nicht aktuell, aber dann, wenn man ihnen das Recht gäbe, ein Erfolgshonorar zu verlangen. Das ist die Prämisse des aktuell noch geltenden umfassenden Verbotes. Das ist zugleich das Berufsbild, das der Gesetzgeber scheinbar im Kopf hat, wenn er an Anwälte denkt. Auch jetzt noch. Natürlich heißt es netter und schönere Worte werden gebraucht, wenn das in Gesetzentwürfen steht. Nicht "Lügen"“ oder "Betrügen" ist da zu lesen, sondern: Die Integrität muss gesichert werden. Die Unabhängigkeit. Die Qualität. Das Ganze garniert mit einer Art Amtsstatus: Organ der Rechtspflege. Frei vom Streben nach – horribile dictu – "Gewinnmaximierung".

Vor 25 Jahren habe ich, wenn solche Begriffe kamen, noch nachgefragt: "Unabhängigkeit – aber von wem denn? Was genau ist hier gemeint?" Oder: "Wie kann ein Anwalt denn sinnvoll ein Unternehmen führen, ohne Gewinn zu beabsichtigen?" Inzwischen frage ich nicht mehr. Abgeschliffen in Hunderten von Debatten, ist mir bewusst, dass einst hehre Begriffe durch dauerhaften Missbrauch zu leeren Floskeln verkommen sind. Man lobt die "Core Values", um sie danach durch heuchlerischen Einsatz zu verhöhnen.

LexFox I – Entscheidung des BGH brachte Durchbruch

Inkassounternehmen, einst die Schmuddelkinder der Rechtsdienstleistungsbranche, sind frei von solchem Verdacht. Niemand wirft ihnen fehlende Integrität vor, wenn sie ihre Leistungen anbieten. Früher dumpfes Abschreiben von Daten in rechtlichen Randbereichen. Heute aufgeschwungen in alle Höhen der Rechtsberatung. Im Begriff, den Rechtsmarkt zu übernehmen. Das löste Fragen aus, wenn man die Anbieter am Rechtsdienstleistungsmarkt verglich. Seit der grundsätzlichen Billigung neuer Inkasso-Geschäftsmodelle durch die Entscheidung LexFox I des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 27. November 2019 waren einige überkommene Verbote im anwaltlichen Berufsrecht immer stärker unter Druck geraten.

"Warum dürfen Anwälte nicht, was Inkassounternehmen erlaubt ist?", wurde gefragt, und die Antworten fielen dünn aus. Anwälte seien eben Organe der Rechtspflege, so wiederholten Gerichte bis hin zum BGH gebetsmühlenartig. Warum aber ausgerechnet der strenger regulierte, intensiver überwachte und nur bei Nachweis höherer fachlicher Qualifikation zugängliche Beruf am stärksten durch Verbote eingeschnürt werden muss, das konnte niemand wirklich erklären. Wer indes sehen wollte, der sah: Längerfristig würde die Anwaltschaft den Wettkampf am Rechtsdienstleistungsmarkt nicht überleben können, würde man sie aus diesen Fesseln nicht befreien.

Alles ist Inkasso

Wo aber liegen die Grenzen dessen, was den jungen Inkassounternehmern gestattet ist, und was ist eigentlich "Inkasso"? Eine der spannendsten, wenngleich unscheinbaren Passagen des Referentenentwurfes ist die, wo es genau um diese Frage geht. Achselzuckend stellt der Gesetzgeber in spe in der Entwurfsbegründung fest, dass er es auch nicht weiß und die Antwort lieber der Rechtsprechung überlässt: "Eine detaillierte gesetzliche Festlegung, wann genau noch eine Forderungseinziehung vorliegt und wann davon nicht mehr ausgegangen werden kann, erscheint in Anbetracht der Vielschichtigkeit der in Betracht kommenden Sachverhalte nicht sinnvoll möglich", heißt es da. Man wolle Raum lassen "für eine richterliche Rechtsfortbildung".

Der BGH hat in besagter LexFox I-Entscheidung schon Vieles durchgehen lassen. Nicht nur die Zahlungsaufforderung. Sondern auch die Aufforderung, künftige Mieterhöhungen zu unterlassen, wenn sie gegen die Mietpreisbremse verstießen. Mit anderen Worten: Von "Inkasso" wird bereits dann gesprochen, wenn man die Entstehung einer Forderung vereitelt, die es zu inkassieren gälte. Kurzum: Selbst dem geübten Leser dieser Rechtsprechung dürften kaum Konstellationen einfallen, die kein Inkasso sind.

Tor zum Erfolgshonorar weit geöffnet

Wenn der Entwurf in die Diskussion eingreift, dann im Sinne der LegalTechs. Im Gefolge von LexFox I waren zahlreiche Auslegungsstreitigkeiten entstanden. Hier ergreift nun der Gesetzgeber eindeutig Partei. Sind Interessen der Kunden gefährdet, wenn Rechtsdienstleistung mit Prozessfinanzierung verknüpft wird? Nein, das wird ausdrücklich in § 4 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) klargestellt.

Ist es möglich, heterogene Forderungen von Kunden zu bündeln? Ja, wird klargestellt, es müssen nur ein paar Informationspflichten erfüllt werden. Kann eigentlich ein Geschäftsmodell, das die Verwaltungsbehörde abgesegnet hat, überhaupt als solches die Nichtigkeit von Verträgen begründen (§ 134 BGB)? Die Untersuchungstiefe der Behörde wird durch den Entwurf erweitert und dann dürfte diese Frage zugunsten der LegalTechs geklärt sein.

Ganz freigeben will dieser Entwurf Erfolgshonorar durch Anwälte noch nicht. Nur da, wo Inkassounternehmen das dürfen, soll es künftig auch den Anwälten erlaubt werden. Soweit Erfolgshonorare zulässig sind, dürfen Anwälte auch Kostenrisiken übernehmen: Gerichts-, Verwaltungs- und Kosten anderer Beteiligter. Level Playing Field im Sandkasten der Rechtsberatung. Mehr gehe nicht, wegen des Berufsbildes, so der Entwurf.

Das könnte ein Entgegenkommen gegenüber der Institution sein, die noch zuletzt versucht hatte, sich aufzubäumen gegen die Freiheit: Der Bundesrechtsanwaltskammer. Politik ist die Kunst des Machbaren. Vielleicht hat sich da jemand gesagt, man streut ein paar der hergebrachten Leerfloskeln in den Entwurf, hält pro forma an dem verzerrten Berufsbild fest, das – ausgerechnet! – die BRAK so häufig propagiert, lässt noch ein Rudiment an Verboten bestehen, als Übergangsphase. Die Heuchelei einmal anders gewendet. Wer mit Worthülsen operiert, wird mit Worthülsen narkotisiert. Gleichzeitig, ganz leise, wird das Tor zum Erfolgshonorar weit geöffnet.

Europarechts- und verfassungswidrig

Das zeigt sich auch, wenn man die Begründung dafür liest, warum die partielle Freigabe erfolgt: Wegen der europarechtlichen Kohärenz. Europarechtlich sei ein Verbot nur haltbar, wenn es verhältnismäßig sei: Durch öffentliche Interessen gerechtfertigt und im Rahmen dessen, was dieses Interesse erfordert. Was bei Anwälten verboten, ist noch bei Inkassobüros erlaubt. Hieraus ergäben sich erhebliche Bedenken im Hinblick auf die Kohärenz und damit die Verhältnismäßigkeit der Verbote im anwaltlichen Berufsrecht.

Das alles ist richtig, aber unvollständig. Der Entwurf erwähnt nämlich nur europäisches Recht, blendet aber nationales Verfassungsrecht aus. Nach Artikel 12 des Grundgesetzes gilt indes im Grundsatz nichts anderes als im Europarecht. Einschränkungen der Berufsfreiheit müssen verhältnismäßig sein, sonst erweisen sie sich als verfassungswidrig. Nach den Ausführungen des Referentenentwurfs ist das schon heute der Fall, auch wenn er das nicht offiziell einräumen möchte.

Neue Philosophie für das RDG

Nicht nur diese, an sich schon durchaus gewichtigen, Einzelregelungen sind Gegenstand des Entwurfs. Einzug in das RDG hält eine neue Philosophie. Dazu lohnt es, die Aufzählungen von Informationspflichten einmal näher unter die Lupe zu nehmen, die der Entwurf bringt. An mehreren Stellen finden sich schier endlose Listen von Angaben, die Anbieter künftig ihren Kunden unterbreiten müssen. Das liest sich langweilig und mühsam. Quälende Bürokratie, abzuhaken in einem Kästchen im Internet, bei dem auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme verwiesen wird. In Wahrheit aber deutet sich hier ein fundamentaler Richtungswechsel an.

Als das RDG beraten wurde, galt es, eine Weiche zu stellen. Die inzwischen emeritierte Rectswissenschaftlerin Prof. Dr. Barbara Grunewald plädierte für ein Informationsmodell, die ganz herrschende Gegenmeinung für ein Verbotsmodell. Die Verbote haben sich durchgesetzt. Nicht lang erklären, schlicht untersagen. Richtig: Zu informieren, transparent zu sein, Leistungsangebote zu unterbreiten und einem mündigen Mandanten dann die Auswahl zu überlassen, welche Qualifikation er für welche Leistung zu welchem Preis einkaufen möchte, das ist komplexer. Alle Marktteilnehmer werden mehr gefordert. Das sei doch viel zu gefährlich, hieß es mehrheitlich. Den unkundigen Mandanten müsse man vor sich selbst schützen. Zu viele Informationen, das könne er gar nicht verarbeiten.

Mandanten werden mündig

Doch nun, von vielen - auch von der verfassten Anwaltschaft -  unbemerkt, ist der Mandant erwachsener geworden. Der neue Entwurf will ihm daraufhin etwas mehr Selbstbestimmung anvertrauen. Ihm eine Position überlassen, in der er womöglich selbst etwas beurteilen, abwägen und letztlich entscheiden kann. Und darf. Insoweit ist der vorliegende Referentenentwurf nichts weniger als ein Schritt auf dem Wege zum Austritt realer Mandanten aus ihrer traditionellen, durch Gesetze verordneten Unmündigkeit.

Nimmt man das alles zusammen, bläst man den Nebel der Begriffe hinweg, mit dem die Entwurfsverfasser geschickt ihre Ambitionen verhüllen, dann erweist sich dieser Entwurf als eine kleine Revolution. Wenige Bestimmungen nur, aber eine große, eine richtungsweisende Reform.

Autor Prof. Dr. Volker Römermann ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG und Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Eine ausführliche Stellungnahme des Autors zu den beiden berufsrechtlichen Referentenentwürfen aus dem BMJV vom 6. und 29. Oktober 2020 wird im Anwaltsblatt Dezember 2020 veröffentlicht.

Zitiervorschlag

Referentenentwurf zum anwaltlichen Berufsrecht: . In: Legal Tribune Online, 13.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43427 (abgerufen am: 08.11.2024 )

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