DAV-Präsidentin über zu wenig Allgemeinanwälte: "Keine men­sch­li­chen Kon­takte, keine men­sch­li­chen Lösungen"

Interview von Pia Lorenz

15.05.2019

Jahrelang galt die Spezialisierung als Fachanwalt als Garant, um als Anwalt gutes Geld zu verdienen. Jetzt fehlen auf dem Land die Allgemeinanwälte. Völlig zu Unrecht, meint Edith Kindermann. Sie bräuchten nur eine vernünftige Infrastruktur.

LTO: Frau Kindermann, das ebenso hehre wie abstrakte Motto des diesjährigen Anwaltstags lautet "Rechtsstaat leben" - was bedeutet das für Sie?

Edith Kindermann: Für mich ist das eine ganz bodenständige Botschaft, wenn man sie auf beiden Worten betont: Den "Rechtsstaat" zu "leben", das bedeutet für mich, dass jeder das Gefühl haben muss, ein Teil dieses Rechtsstaats zu sein.

Das setzt Informationen über die eigenen Rechte voraus und dass man weiß, dass man mit ihrer Durchsetzung nicht allein gelassen wird. Rechtsstaat leben, das heißt für mich vor allem Zugang zum Recht - und es ist eine wichtige Aufgabe der Anwaltschaft, den zu garantieren. Und ganz speziell eine Aufgabe der Allgemeinanwälte.

Der Allgemeinanwalt garantiert für Sie also den Zugang zum Recht in seiner originären Form?

In sehr vielen Fällen zumindest, denn oft sind sie diejenigen, die überhaupt erst einmal strukturieren und sichten, wenn Menschen allein nicht weiterwissen. Das erste Beratungsgespräch in Familiensachen nach einer Trennung dauert, wenn es Kinder gibt, regelmäßig zwei, manchmal auch drei bis vier Stunden. Der Mandant ist dann in 14 verschiedenen Rechtsfragen betroffen - vom Hausrat über Steuern und Erbrecht bis hin zum Energieliefervertrag.

"Über Rolle und Funktion der Allgemeinanwälte differenzierter diskutieren"

Wie definieren Sie, die Sie seit vielen Jahren Mitglied auch der ARGE Allgemeinanwalt des DAV sind, eigentlich den Allgemeinanwalt? Ist das einfach derjenige, der keinen Fachanwaltstitel führt?

Keineswegs, es ist eher derjenige, der sich eher als Generalist versteht und weniger als Spezialist. Laut Studien von Prof. Dr. Matthias Kilian macht auch ein Allgemeinanwalt allerdings typischerweise nicht alles. Die meisten haben ihren Schwerpunkt im Zivilrecht, dort im Bürgerlichen Gesetzbuch, speziell dem Familien- und Erbrecht. Hinzu kommen typischerweise etwas Arbeitsrecht sowie Sozialrecht.

Viele Allgemeinanwälte bieten auch strafrechtliche Vertretung sowie Ordnungswidrigkeitenrecht an, im Wesentlichen im Bereich Verkehrsrecht. So mancher Allgemeinanwalt nimmt auch die kleine Schlägerei des Mandanten an - aber er würde sicherlich keine Verteidigung übernehmen, für die viele  Verhandlungstage anberaumt werden.

Diese Arbeitsweise entspricht aber nicht dem Trend des vergangenen Jahrzehnts. Immer mehr Fachanwaltschaften wurden geschaffen, die Spezialisierung als der herausragende Unique Selling Point im schwierigen Marktumfeld der Anwälte angesehen.

Professor Kilian schrieb schon vor fünf Jahren über Rechtsanwälte als Spezialisten und als Generalisten. Und er erklärte es für unverzichtbar, über die Rolle und die Funktion von Allgemeinanwälten künftig differenzierter zu diskutieren als nur mit Blick auf die Probleme der Generalisten.

"Allgemeinanwälte machen nicht mehr Fehler"

Aber es gibt diese Probleme. So verdienen Fachanwälte im Schnitt wesentlich besser als Allgemeinanwälte. Und kann man in Zeiten zunehmender Regulierungsdichte in so gut wie jedem Rechtsgebiet noch wirklich in der Breite up to date bleiben?

Beim statistisch gesehen unterschiedlichen Verdienst ist zwar zu berücksichtigen, dass Allgemeinanwälte häufiger auf dem Land tätig sind, also auch viel niedrigere Lebenshaltungskosten haben als der Kollege in der Großstadt.

© DAV/Andreas BurkhardtZu beachten ist jedoch, dass Fachanwälte, die sich ganz tief in ein Rechtsgebiet einarbeiten, einen geringeren logistischen Aufwand betreiben müssen, also oft ein besseres Zeit-Leistungs-Verhältnis haben. Zudem muss ein hochspezialisierter Fachanwalt nicht für jährlich 12.000 bis 18.000 Euro seine Bibliothek ausstatten, um Literatur zu allen Verfahrensordnungen zu besitzen.

Die meisten Anwälte, die einen oder mehrere Fachanwaltstitel haben, sehen sich zudem weiterhin auch als Allgemeinanwälte. Und in Sachen Haftpflichtschäden gibt es statistisch gesehen keinen Unterschied zwischen Fachanwälten und Allgemeinanwälten - Letztere machen also keineswegs mehr Fehler. Die Fehler sind aber unterschiedlich: Fachanwälten passieren sie eher in allgemeinen Fragestellungen, zum Beispiel einer nicht eingehaltenen Schriftform. 

"Pflügen muss man quer zum Berg"

Was macht den Beruf des Allgemeinanwalts aus?

Die Herausforderungen an den Allgemeinanwalt sind schlicht andere als die an den Fachanwalt. Wie auch bei Ärzten brauchen Menschen jemanden, der die Querverbindung macht. Wenn wir beim Beispiel der Trennung bleiben, dann braucht der Mandant auch Beratung in Sachen Hausratversicherung - und kann sich dafür natürlich keinen Fachanwalt für Versicherungsrecht nehmen.

Der Allgemeinanwalt erhebt nicht den Anspruch, in allen Bereichen der Experte zu sein. Der Allgemeinanwalt kommt vom Lebenssachverhalt. Er sieht sich den Fall in seiner gesamten Breite an und er weiß, wo sein Know-How endet.

Oft brauchen Menschen auch einfach jemanden, der für sie spricht. Häufig ist Volksnähe das Wichtigste, um gut für den Mandanten einzustehen. Wenn man im Teutoburger Wald geboren ist, dann weiß man, dass man nicht bergab, sondern quer zum Berg pflügen muss. Das hilft enorm, wenn man einen Bauern vertritt.

Wenn Sie diesen Vertreter des Bauern vergleichen mit dem hochspezialisierten Fachanwalt in der Großstadtboutique: Ist das ein ganz anderer Typ Mensch?

Anwälte sind doch ohnehin ganz unterschiedliche Typen Mensch. Der Allgemeinanwalt ist in der Regel vor Ort gut vernetzt und hat in bestimmten Bereichen Ortskenntnisse, die er im Leben mitnimmt. Seine Stärke sollte es natürlich schon sein, einen Sachverhalt gut auszuermitteln.

Er sollte breit aufgestellt sein, einen offenen Blick und gutes juristisches Handwerkszeug haben. Meiner Erfahrung nach sagen Allgemeinanwälte zum Beispiel viel eher, dass eine Vorschrift - im Vergleich mit Regeln in anderen Verfahrensordnungen - überhaupt nicht ins System passt.

"Ein Allgemeinanwalt sollte neugierig sein und querdenken"

Braucht der Allgemeinanwalt mehr Mut?

Mehr Mut würde ich nicht sagen, aber er sollte sehr neugierig sein und Informationen anders aufnehmen und verarbeiten. Ein "Das ist so" darf ein Allgemeinanwalt nie hinnehmen. Er muss stets Strukturen erkennen und Verbindungen knüpfen.

Den Allgemeinanwalt zeichnet es aus, dass er querdenkt. Er erkennt eine spannende steuerrechtliche Frage und, mithilfe seines juristischen Handwerkszeugs, Konstellationen, auf die sie sich möglicherweise auswirken könnte - und dann kennt er den Steuerberater um die Ecke, den er danach fragen kann.

Dafür zu sorgen, dass der Allgemeinanwalt über das nötige Handwerkszeug verfügt, ist übrigens eine Aufgabe des DAV. Der Anwaltverein muss Hilfestellung geben, wenn jemand etwas über das elektronische Anwaltspostfach (beA) verschicken will und nicht weiß, welchen Knopf er drücken muss.

Aber die Allgemeinanwälte müssen sich auch selbst organisieren, damit sie nicht in den kleinen Einheiten versacken, in denen sie häufig tätig sind. Gerade junge Kollegen machen das sehr gut: Im Forum Junge Anwaltschaft wird regelmäßig in Chats die Schwarmintelligenz aktiviert. Wie man eine Zwangsvollstreckung in Dänemark macht, können Kollegen oft innerhalb einer halben Stunde mitteilen.

"Es braucht Infrastruktur, damit Anwälte arbeiten können"

Wie steht es um die praktischen Bedingungen: Hat der Allgemeinanwalt denn überhaupt noch eine Überlebenschance, wenn Gerichtsstandorte schließen und ganze Landstriche verwaisen?

Es droht das gleiche Problem wie bei den Ärzten. Damit Menschen auch in der Fläche nicht abgehängt werden, muss der Zugang zum Recht gewährleistet sein. Es muss einen Allgemeinanwalt geben - das ist ein Programmsatz.

Dafür ist es natürlich nicht hilfreich, wenn Gerichte zusammengelegt werden. Aber es gibt eine Tendenz zu mehr außergerichtlicher Einigung, ob nun durch Branchenschlichtungssysteme, Güteverfahren oder auch die Möglichkeit, Titel notariell zu beurkunden. Man muss nicht immer zu Gericht.

Dennoch braucht es gerade in den neuen Bundesländern bessere Rahmenbedingungen, damit Anwälte dort arbeiten wollen.  Und das ist Aufgabe der Politik. Es braucht eine digitale Infrastruktur, die es allerspätestens bis zur zwingenden Nutzung 2022 zumindest ermöglicht, dass Anwälte Schriftsätze sicher über das besondere elektronische Anwaltspostfach einreichen können. Es braucht öffentliche Verkehrsmittel und eine Verkehrsinfrastruktur, damit Menschen die Anwälte überhaupt erreichen können. Und es braucht höhere gesetzliche Gebühren für Anwälte.

An uns selbst geht der Hinweis, nicht immer nur das hohe Lied der Fachanwälte zu singen - viele jüngere Kollegen können gar nicht mehr genug Fälle für den praktischen Teil sammeln. Die Idee, Ersetzungsmöglichkeiten für die praktischen Fälle zu schaffen, um den Zugang zur Fachanwaltschaft wieder zu vereinfachen, steht aber in der nächsten Legislaturperiode wieder auf der Agenda der Satzungsversammlung. 

"Keine menschlichen Kontakte, keine menschlichen Lösungen"

Aber müssen sich nicht auch die Anwälte selbst bewegen, um zukunftsfähiger zu werden?  Also Videocall-Sprechstunden anbieten, eine hohe Erreichbarkeit über unterschiedliche Kommunikationskanäle sicherstellen und E-Akten nutzen, in die der Mandant Einblick hat?

Anwälte sind beweglich - und sie bewegen sich auch. Natürlich will die junge Generation auf anderen Wegen kommunizieren und darauf stellen sich die Anwälte ein. Das heißt übrigens nicht, dass man rund um die Uhr erreichbar sein muss. Aber in solchen Modellen kann man sich zusammenschließen, was wir durch die Reform der Bundesrechtsanwaltsordnung auch vereinfachen wollen.

In Schottland gibt es Modelle, in denen zum Beispiel in kleinen Orten ein Raum vorgehalten wird, in dem an jedem Tag der Woche ein anderer Anwalt den Menschen zur Verfügung steht. So sind alle versorgt und es gibt keine Kollisionen wegen widerstreitender Interessen.

Zu guter Letzt noch die unvermeidliche Frage nach Legal-Tech-Plattformen: Sind die Angebote, die damit werben, einen leichteren, nur im Erfolgsfall kostenpflichtigen Zugang zum Recht anzubieten, eine Gefahr für die Allgemeinanwälte?

Nicht, wenn man vernünftig aufgestellt ist. Zunächst kann der Anwalt Legal-Tech-Anwendungen auch für sich selbst nutzen. Und die Arbeit am Sachverhalt, eine der Hauptaufgaben des Allgemeinanwalts vor Ort, kann eine Software nicht übernehmen. Schließlich bietet Software keinen menschlichen Kontakt. Und der ist gerade in den Fällen, die beim Allgemeinanwalt landen und häufig eine starke emotionale Komponente haben, extrem wichtig. Keine menschlichen Kontakte, keine menschlichen Lösungen.

Allgemeinanwalt zu sein, das ist mehr als ein Job. Man ist ganz dicht am Leben und lebt die Einheit der Rechtsordnung. Man kann Menschen in den verschiedensten Lebenslagen begleiten. Man bleibt stets herausgefordert, mit wachem Blick durch die Welt zu gehen. Anwalt auf hohem Niveau zu sein, das geht nicht nur mit Spezialisierung, sondern auch mit Profilierung.

Frau Kindermann, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Edith Kindermann ist Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins und seit langen Jahren Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Allgemeinanwälte.Die Schwerpunkte ihrer anwaltlichen Tätigkeit in einer kleinen Kanzlei in Bremen liegen im Familienrecht sowie im anwaltlichen Berufsrecht.

Die Fragen stellte Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

DAV-Präsidentin über zu wenig Allgemeinanwälte: . In: Legal Tribune Online, 15.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35389 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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