Ein neuer Gesetzentwurf regelt die zwangsweise ärztliche Behandlung psychisch kranker Betreuter in geschlossenen Anstalten. Die Bundesregierung setzt damit ein Urteil des BGH um. Die Neuregelung ist ehrlich, transparent und konsequent, findet Franz Dillmann. Die Grenzen der Freiheit und das Recht auf Krankheit müssen neu ausgelotet werden.
Zwang ist in psychiatrischen Einrichtungen notwendiger Alltag – wenn auch nicht mehr so drastisch wie in dem Film "Einer flog über das Kuckucksnest", der in den 70ern in einer psychiatrischen Klinik spielt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde schätzt, dass heute jährlich rund 50.000 Betreuungsfälle von einer Zwangsmedikation betroffen sind.
Sträubte sich ein unter rechtlicher Betreuung stehender, mit Genehmigung des Betreuungsgerichts gemäß § 1906 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegen seinen Willen stationär untergebrachter Patient dagegen, einer angezeigten medizinischen Behandlung unterworfen zu werden, reichte es bisheriger Auslegung dieser Vorschrift aus, wenn sein gesetzlicher Betreuer der Medikation ersatzweise zustimmte.
Nun werden die Voraussetzungen strikter. Am vergangenen Mittwoch hat das Bundeskabinett eine "Formulierungshilfe" verabschiedet, die nicht nur einen Richtervorbehalt implementiert, sondern auch in materieller Hinsicht das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stärkt.
BGH forderte verfassungsfeste Grundlage
Hintergrund sind zwei Beschlüsse des Bundesgerichtshofs aus dem Juni dieses Jahres. Die Karlsruher Richter distanzierten sich von ihrer früheren Rechtsprechung (Beschl. v. 01.02.2006, Az. XII ZB 236/05) und forderten eine verfassungsrechtlich tragfähige Grundlage für betreuungsrechtliche Zwangsbehandlungen (BGH, Beschlüsse vom 20.06. 2012, Az. XII ZB 99/12; XII ZB 130/12).
Die Unterbringungsregelung des § 1906 BGB sahen sie nicht als genügende Ermächtigungsgrundlage an, um einen nach Betreuungsrecht untergebrachten Betroffenen zwangsweise zu behandeln.
Die Kehrtwende des BGH kam nicht ganz überraschend: Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2011 die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug als verfassungswidrig eingestuft (BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011, Az. 2 BvR 882/09). Die obersten deutschen Richter hatten die rheinland-pfälzische Vorschrift für verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung auf Landesebene gefordert, die formell und materiell verfassungsgemäß ist.
Den gleichen Anforderungen, welche das BVerfG für den Maßregelvollzug aufgestellt hat, muss nach Ansicht der BGH-Richter auch die gesetzliche Grundlage genügen, welche die Zwangsbehandlung anderer unter Betreuung stehender Patienten regelt. Die Rechtsmacht des Betreuers müsse durch einen Richtervorbehalt eingeschränkt werden, wie dies bereits heute bei besonders gefährlichen ärztlichen Maßnahmen wie einer Sterilisation oder eben einer zwangsweisen geschlossenen Unterbringung vorgesehen ist.
"Formulierungshilfe": Erheblicher Schaden muss drohen, Richter muss genehmigen
Da den Betroffenen erheblichen Schaden nehmen können, wenn sie mangels gesetzlicher Grundlage nicht behandelt werden können, musste legislativ Fahrt aufgenommen werden. Am vergangenen Mittwoch hat das Bundeskabinett den Entwurf einer so genannten Formulierungshilfe zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme beschlossen (BT-Drs. 17/10492). Diese wird in einen Gesetzentwurf münden.
Die Vorlage fügt § 1906 BGB weitere Absätze hinzu und enthält Ergänzungen weiterer Verfahrensgesetze wie des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit: Künftig soll danach eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen einer stationären Unterbringung nur zulässig sein, wenn der Betreuer in diese bei seinem krankheitsbedingt nicht zur Einwilligung fähigen Betreuten einwilligt, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden für ihn abzuwenden. Der Schaden darf dabei nicht durch andere zumutbare Maßnahme vermeidbar sein und der zu erwartende Nutzen der Behandlung muss die mit ihr einhergehenden Beeinträchtigungen des Patienten deutlich überwiegen.
Ein Richter muss die Zwangsbehandlung nun genehmigen, eine einmal erteilte die erteilte Zustimmung soll nur für sechs Wochen gelten. Der richterliche Beschluss bestimmt, wie die Maßnahme unter Verantwortung eines Arztes durchgeführt und dokumentiert werden muss. Entfällt eine dieser Voraussetzungen, muss der Betreuer seine Einwilligung widerrufen.
Transparent und ehrlich für mehr Selbstbestimmung
Die vorgeschlagene Neureglung schafft zunächst Rechtssicherheit. Sie bessert das Betreuungsrecht aus, welches die Frage der Zwangsbefugnisse lückenhaft regelt und den unvermeidlichen Eingriffscharakter des Betreuungsrechts ein wenig verschämt kaschiert. Andere Bereiche wie die ambulante Zwangsbehandlung oder die Wohnungsbetretung harren noch der normativen Heilung.
In dieser neuen, transparenteren Fassung bieten § 1906 BGB und die ergänzten Nebengesetze eine gute Grundlage für eine strenge richterliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Zwangsbehandlungen. Mit Adleraugen kann und muss sie das Selbstbestimmungsrecht der Patienten einschließlich ihres (begrenzten) Rechts auf Krankheit (dazu schon BVerfG, Urt. v. 7.10.1981, Az. 2 BvR 1194/80) beim "Flug über das Kuckucksnest" beachten. Auch psychisch Kranken steht es nämlich in gewissen Grenzen frei, sich gegen Behandlungen zu wenden, auch wenn diese nur ihrem Wohl oder ihrer Gesundung dienen. Verfahrensrechtliche Verzögerungen, welche durch die zusätzliche richterliche Prüfung möglicherweise eintreten werden, sind zum Schutz der zwangsbehandelten Patienten in Kauf zu nehmen.
Weiter blickend gehören indes auch die Unterbringungsgesetze in den Ländern auf den Prüfstand. Allein im Jahr 2011 sind nach Auskunft der Bundesregierung, BT-Drs. 17/10712, 57.116 betreuungsrechtliche Unterbringungen gerichtlich genehmigt worden. Neue Regelungen müssten mehr geeignete Behandlungs- und Unterstützungsangebote anbieten, um Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen System überhaupt zu vermeiden.
Nur so wird Deutschland auch den Vorgaben der seit 2009 gültigen VN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden. Nach deren Art. 12 müssen Maßnahmen, welche die Rechts- und Handlungsfähigkeit betreffen, nicht nur verhältnismäßig, sondern auch auf die Umstände der Person zugeschnitten sein.
Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers.
Franz Dillmann, Neuregelung medizinischer Zwangsbehandlungen: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7540 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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