2/2: Das eigentliche Problem mit Wikipedia
Diese beiden Begründungen erweisen sich als wenig überzeugend. Durch Angabe eines Permanentlinks kann man schon lange eindeutig und sekundengenau auf die Version eines Lemmas verweisen, die man selbst eingesehen hat - offenbar eine technische Möglichkeit, deren Kenntnis noch lange nicht bei allen Richtern vorhanden zu sein scheint, die die Wikipedia in ihren Urteilsgründen zitieren.
Und auch die Bedenken gegenüber namentlich nicht gekennzeichneten Lexikonbeiträgen sind an anderer Stelle weitaus weniger ausgeprägt: Sowohl allgemeine Wörterbücher und Enzyklopädien – wer erinnert sich noch an Brockhaus und Meyers Konversationslexikon? – als auch Fachwörterbücher wie der Pschyrembel werden ungeachtet der Anonymität der Beiträge sowohl in Gerichtsurteilen als auch in rechtswissenschaftlichen Texten traditionell häufig zitiert.
Fachlich ausgewiesene Autoren verlangt die Wikipedia nicht, obwohl sie natürlich willkommen sind. Und sie kann diese, zumindest unter Juristen, bislang auch nur in geringem Umfang gewinnen, denn die Mitarbeit an einem Wikipedia-Lemma lohnt sich praktisch nicht: Die Autorentätigkeit ist definitionsgemäß ehrenamtlich und ein wissenschaftlicher Reputationsgewinn ist einigermaßen illusionär bei Texten, die sich nach wenigen Sekunden der individuellen Kontrolle entziehen. Warum sollte es dann ausgerechnet bei dem geächteten Online-Lexikon auf Titel und bekannte Namen ankommen?
Nein: Der Grund, warum Wikipedia wie andere Enzyklopädien nur ausnahmsweise und subsidiär als Belegstelle heranzuziehen ist, dürfte vielmehr darin liegen, dass sie sich als Tertiärquelle versteht. Der Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens muss hingegen im Zugriff auf die Primärquellen bestehen. Wo das nicht möglich ist, weil es etwa an Zeit oder Expertise mangelt, sind wenigstens Sekundärquellen heranzuziehen. Wer das aber beherzigt, kann in bestimmten Situationen kunstregelgerecht die Wikipedia nicht nur faktisch nutzen, sondern auch ehrlicherweise zitieren. Erforderlich wird ein Zugriff auf die Wikipedia kaum jemals für Rechtsinformationen werden (zumindest nicht im nationalen Recht), umso mehr aber dann, wenn es um Tatsachenwissen geht.
Veranstaltung: Rechtsquelle Wikipedia?
An der Fernuniversität in Hagen hat am vergangenen Wochenende das erste Symposium zum Thema "Rechtsquelle Wikipedia? Praxis – Fiktion – Standards" stattgefunden, das Wikipedianer und Juristen aus unterschiedlichen Berufen zusammenführte; die Schnittmenge zwischen den beiden Gruppen ist klein. Das thematisch vielfältige Programm reichte von einer Einführung in die Arbeitsprinzipien der Wikipedia über die Bestandsaufnahme ihrer Rolle und Funktion in der Rechtsprechung bis hin zu Fragen der Qualitätssicherung.
Ganz nebenbei bot die Veranstaltung auch dem technisch wenig beschlagenen Zuhörer einiges: Die terminverhinderten Referenten waren zuvor filmisch aufgezeichnet worden und Wikipedia-Anfänger konnten sich in Echtzeit ansehen, wie ein Wikipedia-Lemma editiert und gesichtet wird.
Verlässliche Antworten auf die vom Programm aufgeworfenen Fragen gab es aber nur vereinzelt. Dass die Wikipedia keine Rechtsquelle ist, dürfte allgemeinem Konsens der Teilnehmer entsprochen haben. Eine Enzyklopädie hat keine Rechtssetzungsbefugnis und normative Aussagen enthält sie jedenfalls nicht als eigene.
An welcher Stelle in juristischen Diskursen aber die durch ein Wiki akkumulierte "Expertise der Vielen" eine Rolle spielen kann und soll, muss vorläufig offenbleiben. Ob sich rechtliche Argumentationen durch die Wiki-Technologie verändern werden und ob dabei vielleicht Expertise und Autorität in Zukunft anders zu denken sein werden, ist im Augenblick noch nicht zu abzusehen. Man darf sich also Folgekonferenzen wünschen, die Ergebnisse der soeben abgeschlossenen sollen im Lauf des Jahres digital publiziert werden.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frank-furt am Main.
Roland Schimmel, Wikipedia für Juristen: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22280 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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