Jeder Jurist nutzt sie, aber keiner zitiert sie, meint Roland Schimmel mit Blick auf die Wikipedia. Warum das Online-Lexikon aus den falschen Gründen verpönt ist, man es manchmal doch zitieren kann und es eine eigene Juristen-Tagung hat.
Juristen haben es nicht so mit der Wikipedia. Das klingt nach einer steilen These angesichts der Erfahrungstatsache, dass es kaum einen juristischen Kollegen gleich welchen Berufes gibt, der nicht mehrmals täglich die Wikipedia nutzt. Und doch: Juristen fremdeln mit dem Wissensportal aus dem Internet.
Nicht in jeder Hinsicht allerdings: Die Rechtsprechung mag das Lexikon offenbar. Aktuell finden sich bei juris rund 3.000 Urteilsfundstellen mit entsprechenden Bezugnahmen auf das Online-Lexikon. Dabei handelt es sich nicht nur um Entscheidungen der unteren Instanzen, wie man vielleicht erwarten würde. So ist das Bundespatentgericht unter den obersten Gerichten mit über 800 Nennungen in Entscheidungen Spitzenreiter, der Bundesgerichtshof kommt in Straf- und Zivilsachen zusammengenommen nicht auf zehn, das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht zeigen bislang noch vollständige Zurückhaltung.
Bemerkenswerterweise thematisiert kaum eine Handvoll unter diesen Urteilen die Frage, ob und wann die Auswertung der Wikipedia seitens eines Gerichts denn zulässig sein könnte. Das wird auch in der juristischen Kommentarliteratur bisher eher am Rand thematisiert, obwohl ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt recht gut zu identifizieren ist: In § 291 der Zivilprozessordnung und § 244 III 2 der Strafprozessordnung ist geregelt, dass offenkundige Tatsachen nicht beweisbedürftig sind.
Man kann also fragen, ob eine Tatsache, die der Wikipedia zu entnehmen ist, als allgemeinkundig angesehen werden kann. Ein aufwendiger Sachverständigenbeweis wird dann entbehrlich. Allgemein zugänglich ist die Wikipedia ohne weiteres, ob sie aber zuverlässig ist, lässt sich in Zweifel ziehen. Auch die Frage, ob sie eine verständliche Quelle abgibt, ist nicht ganz trivial: Beispielsweise sind die Lemmata zu naturwissenschaftlichen Themen oft auf einem Niveau, das dem nicht doppelqualifizierten Juristen zumindest abschnittsweise kaum noch zugänglich ist.
In der Wissenschaft verpönt
Die Rechtswissenschaft dagegen hat die Wikipedia fast vollständig ignoriert. Im akademischen Betrieb wurde sie in den letzten Jahren hauptsächlich im Negativen erwähnt: Fast keine Merkblätter für die Anfertigung von Haus- und Seminararbeiten, beinahe kein Lehrbuch über juristische Arbeitstechniken, die nicht vor der Wikipedia gewarnt oder sie gleich pauschal für tabu erklärt haben.
Wikipedia teilt damit das Schicksal der meisten Online-Quellen, vielleicht sogar des Internets allgemein: Juristen mit akademischem Schwerpunkt nutzen es ständig, zitieren es aber nach Möglichkeit nie. Seit einigen Jahren weicht dieses generelle "Wikipedia-Verbot" des universitären Lehr- und Prüfungsbetriebs aber auf. Die pragmatischeren und klügeren Arbeitsanleitungen erkennen die Nützlichkeit der Online-Enzyklopädie an - so jedenfalls für den ersten Einstieg in unbekannte Materien.
Doch auch sie empfehlen letztlich regelmäßig, nicht die Wikipedia, sondern allenfalls deren (insbesondere juristische) Quellen zu zitieren.
Die Begründungen für die Warnungen vor der Wikipedia – sofern solche denn überhaupt für nötig gehalten werden – lauten meistens, sie lasse die Bearbeiter der Texte nicht erkennen, geschweige denn deren fachliche Qualifikation. Außerdem könnten die Texte ständig bearbeitet werden, so dass die Referenzierung eines bestimmten Bearbeitungsstands schwierig sei.
Roland Schimmel, Wikipedia für Juristen: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22280 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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