Der 20. Bundestag ist gewählt, doch im Amt sind die Abgeordneten noch lange nicht. Auch bleibt Angela Merkel vorerst Bundeskanzlerin. Wie es rechtlich weitergeht, erklärt Robert Hotstegs im Interview.
Herr Hotstegs, am Sonntag wählten die Bürgerinnen und Bürger den 20. Deutschen Bundestag. Wann treten die gewählten Abgeordneten offiziell ihr Amt an?
Robert Hotstegs: Es könnte in der Theorie jederzeit losgehen, denn das Grundgesetz (GG) sagt in Art. 39 Abs. 2 nur, dass der neugewählte Bundestag spätestens nach 30 Tagen einzuberufen ist. Früher geht immer.
Wenn das Bundespräsidialamt alles akkurat vorbereitet hat, dann hat der Bundespräsident bereits die Bundeskanzlerin und alle Bundesminister:innen gebeten, nach Art. 69 Abs. 3 GG die Geschäfte bis zur Ernennung der Nachfolger:innen wahrzunehmen. Die so gebetenen haben auch keine andere Möglichkeit, das GG sagt, sie sind "verpflichtet". Ohne Wenn und Aber und ohne gesetzliche Befristung.
Der Bundeswahlleiter hat angekündigt, dass er wohl am 15. Oktober das amtliche Endergebnis bekannt geben wird. Dann verschickt Wolfgang Schäuble als amtierender Bundestagspräsident die Einladungen zur ersten Sitzung und mit ihr treten die neuen oder wiedergewählten Abgeordneten ihr Amt an. Gleichzeitig enden das Amt des Bundestagspräsidenten, weil zunächst ein:e Alterspräsident:in übernimmt, und das Mandat jeder bzw. jedes bisherigen Abgeordneten, die nicht wiedergewählt wurden.
Auf der Regierungsbank wird dann also die bisherige "alte" Bundesregierung geschäftsführend Platz nehmen dürfen und dazu gehören Angela Merkel und ihre bisherigen Minister:innen. Olaf Scholz kann also im Plenum und auf der Regierungsbank Platz nehmen – wie bislang auch.
Könnten die Parteien jetzt noch eine andere Person für die Position des Bundeskanzlers aufstellen?
Ja natürlich, jederzeit. Ich hielte das aber in den allermeisten Fällen für politisch völlig unklug. Wir haben nach der bisher letzten Europawahl erlebt, wie unverständlich das Postengeschachere auf die Bürger:innen wirkt, wenn wie damals zwei Spitzenkandidaten mit Getöse und Ankündigungen in den Wahlkampf ziehen und am Ende Ursula von der Leyen als ungenannte Nicht-Kandidierende gewählt wird. Natürlich sind die Mechanismen in der EU und im Bundestag unterschiedliche, aber auch dort würde ich dies unter gewöhnlichen Umständen nicht empfehlen.
Gewählt ist aber tatsächlich derjenige oder diejenige, die die notwendigen Stimmen auf sich vereint. Ob man auf einem Plakat aufgedruckt war oder auf einem Parteitag gekürt wurde, fragt das GG nicht.
"Bundesregierung im vollen grundgesetzlichen Sinne"
Wenn die bisherige Bundesregierung geschäftsführend im Amt bleibt, welche staatlichen Aufgaben kann sie rechtlich betrachtet noch wahrnehmen?
Die geschäftsführende Bundesregierung ist Bundesregierung im vollen grundgesetzlichen Sinne. Sie kann und darf daher alle Ämter und auch die ihr als Regierung zustehenden Kompetenzen ausüben. Die Staatspraxis hat sich aber einstimmig in die Richtung ausgeprägt, dass davon kein Gebrauch gemacht wird. Die neue Bundesregierung und auch die Mehrheit des Bundestages soll nicht durch womöglich einseitige und langfristig bindende Handlungen oder Entscheidungen eingeengt werden.
Aber stellen wir uns vor – was sich keiner wünschen kann – es gäbe eine Katastrophe wie die Flut im Frühjahr oder die Corona-Pandemie nimmt eine dramatische Wende, dann ist eine handlungsfähige Bundesregierung vorhanden. Sie wird sich dabei aber in der Praxis wohl viel stärker mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages abstimmen, als das ansonsten notwendig wäre.
Welche Aufgaben hat das neu gewählte Parlament, bis eine neue Bundesregierung gebildet ist?
Der Bundestag ist vom ersten Tag an in der Pflicht, sich und alle Aufgaben eines Gesetzgebers zu organisieren. Die Bildung der Fraktionen macht in der Regel keine Schwierigkeiten. Die Ämterverteilung nur vorübergehend, weil man ggf. auch prominente Menschen zunächst für ein Fraktionsamt und ggf. später auch für ein Minister:innenamt in Erwägung ziehen will.
Komplizierter wird es bei der Ausschussbildung. Die Ressorts der Bundesregierung werden in der Regel erst im Koalitionsvertrag abschließend benannt. Je nach Zahl und Interessen der Koalitionspartner:innen ist es sinnvoll, hier mehr oder weniger Ministerien zu bilden oder Teilressorts zu verschieben oder auszugliedern. Heimat und Verbraucherschutz sind etwa solche Themengebiete, die sicherlich ebenso wie die digitale Infrastruktur oder – aus anderen Gründen - Umwelt genau beäugt werden.
Solange die exakte Ressortverteilung noch nicht vorliegt, ist auch noch unklar, wie die spiegelbildlichen Ausschüsse im Bundestag gewählt und besetzt werden sollten. Das hat zweimal - in 2013 und 2017 - zur Bildung ausschließlich der Pflichtausschüsse nach Art. 45, 45a, 45c GG und eines Hauptausschusses geführt. Der Hauptausschuss hat dann quasi vorübergehend alle Fachausschüsse vertreten.
Das ist hochumstritten und aus meiner Sicht auch unverändert stark zu kritisieren. Der Hauptausschuss kann allenfalls eine zeitlich eng begrenzte Notlösung sein, das Ziel muss aber bleiben, alle Abgeordneten auch in die fachlich differenzierte Arbeit in den Themenausschüssen einzubinden. Ich würde daher immer eher die Bildung der Ausschüsse anhand der "alten" Ressorts der Bildung eines Hauptausschusses vorziehen. Das würde auch dazu passen, dass ja die "alten" Ministerien als geschäftsführende weiterhin existieren. Außerhalb von Thüringen im letzten Frühjahr kommt ja niemand auf die Idee, ein Land ganz ohne Minister:innen zu regieren.
"Auflösung und Neuwahl sehe ich nicht"
Wann können und sollen die Parteien in Koalitionsverhandlungen eintreten?
Es hat sich ja herauskristallisiert, dass zunächst Sondierungsgespräche stattfinden und erst dann Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Da es üblich ist, dass die Parteien und nicht etwa die im Bundestag gebildeten Fraktionen die Verhandlungen führen und abschließen, kann die Verhandlung im Prinzip auch sofort beginnen.
Mir hat sich das aber noch nie so richtig erschlossen. Natürlich ist es gut, dass die Bundesregierung sich auch der Unterstützung der Parteien und der dortigen Mitglieder versichern kann. Stimmiger wäre es aber, wenn die Fraktionen die Verhandlungen führten und dann sozusagen "ihre" Parteien in die Pflicht nehmen würden, sie bestmöglich und tatkräftig zu unterstützen. Die Formulierungen der Koalitionsverträge sind aber andersherum gestaltet.
Wie geht es weiter, wenn die Parteien sich nicht auf eine Koalition einigen können?
Ob Koalition oder Kooperation, Duldung oder Minderheitsregierung, es gibt genug zu tun, sodass in welcher Form auch immer das politische und gesetzgeberische Alltagsgeschäft ansteht. Für ein paar Wochen kann diese Arbeit ruhen oder sich verlangsamen. Aber das darf kein Dauerzustand werden.
Würde die Koalitionsbildung und vor allem die Wahl eines/einer Bundeskanzler:in endgültig scheitern, stünde der Bundespräsident vor der Frage, ob er den Bundestag auflöst und Neuwahlen ansetzt. Das sehe ich aber momentan nicht auf uns zukommen.
"Ausscheidende bekommen Übergangsgeld in Höhe der Abgeordnetenbezüge"
Viele der bisherigen 709 Abgeordneten werden weiterhin Mitglied im Deutschen Bundestag sein. Was aber ist mit denjenigen, die nicht wiedergewählt wurden. Sind diese ab heute arbeitslos?
Ja, das kann man so sagen. Ich bin kein Sozialrechtler, würde aber wohl auch darüber nachdenken, ob sich Abgeordnete nicht rechtzeitig arbeitssuchend und arbeitslos melden müssten. Natürlich sage ich das, obwohl ich weiß, dass jeder und jedem ausscheidenden Mitglied zunächst ein Übergangsgeld zusteht. Das wird in Höhe der Abgeordnetenbezüge für maximal 18 Monate gewährt. Das ist also eine deutlich sanftere Abfederung als Arbeitslosengeld I oder II. Altersentschädigung gibt es aber frühestens mit 63 Jahren. Bis dahin kann also für den ein oder die andere eine Lücke entstehen, die mit einer anderen Berufstätigkeit gefüllt werden muss.
Für die Bundeskanzlerin stellt sich das etwas anders dar. Sie stand in einem Amtsverhältnis und erhält daher für die Dauer der Geschäftsführung weiterhin ihre regulären Bezüge. Danach ein Übergangsgeld für zwei Jahre und ein Ruhegehalt. Anders als beim Ehrensold des Bundespräsidenten fällt die Altersversorgung also bei der Kanzlerin etwas niedriger aus als die aktiven Bezüge.
Einige Wahlberechtigte werden ihre Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig bekommen haben. Können diese Personen noch irgendwie ihr Wahlrecht ausüben?
Dieses Mal nicht mehr. Die Wahl ist vorbei, das Spiel ist aus. Die Bundeswahlordnung sieht ausdrückliche Regelungen vor, wonach auch heute und in den kommenden Tagen noch eingehende Wahlbriefe zwar besonders verwahrt und versiegelt werden. Aber sie werden ungeöffnet verpackt.
Die bis gestern Abend eingegangenen Wahlbriefe haben noch die Eingangsuhrzeit als Vermerk erhalten, ab heute gibt es nur noch das Eingangsdatum. Spätestens 60 Tage vor der Wahl sollen sie in aller Regel dann mit den übrigen noch vorhandenen Wahlunterlagen vernichtet werden.
Bei der Bundestagswahl gab es Pannen. Ausgerechnet der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet und seine Frau warfen ihre Stimmzettel sichtbar in die Wahlurne, die zudem nach den Fotos nicht verschlossen war. In Wuppertal sind in einem Bezirk die Stimmzettel des benachbarten Wahlkreises mit den falschen Direktkandidaten ausgegeben worden. Wie ist mit diesen Pannen umzugehen?
Fangen wir mal einfach an: Die Panne in Wuppertal könnte zur Nachwahl führen, wenn das Ergebnis in dem Bezirk sehr eng ausgefallen wäre und die ungültigen Stimmen hätten relevant werden können. Das war aber nach den ersten Medienberichten nicht der Fall.
Zur Stimmabgabe von Armin Laschet hat sich der Bundeswahlleiter bereits geäußert: Die Wahl der CDU durch Laschet sei so wenig überraschend, dass er das als unproblematisch bewertet hat. Das ist auch richtig und gilt – auch ohne Prominentenbonus in dieser Form – auch für die Ehefrau. Denn viel entscheidender ist, dass eine Zurückweisung von Wähler:innen eben nur bis zum Einwurf des Stimmzettels möglich ist. Danach sind beide Stimmzettel in der Urne und werden mit ausgezählt. Ausgesondert oder herausgerechnet wird nicht. Nur wenn zwei Stimmen im Wahlkreis entscheidend wären, könnte man hier über eine erfolgreiche Wahlanfechtung nachdenken, aber das ist bloße Theorie.
Herr Hotstegs, vielen Dank für die Erklärungen.
Robert Hotstegs, LL.M. ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft in Düsseldorf.
Rechtliches nach der Bundestagswahl: . In: Legal Tribune Online, 27.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46119 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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