Nach Spekulationen hat Sahra Wagenknecht nun die Gründung einer Partei bestätigt. Was das für die Linksfraktion bedeutet, und wieso die beiden Lager erstmal zusammenbleiben dürften, hat LTO mit Staatsrechtler Alexander Thiele besprochen.
Nun ist es offiziell, ein neues Kapitel in der deutschen Parteienlandschaft. Am Montag hat eine Gruppe von Abgeordneten um Sahra Wagenknecht in Berlin die Gründung eines neuen Vereins angekündigt. Schon zur Europawahl 2024 soll ihre neue Partei auf dem Wahlzettel stehen, wenn es nach ihnen geht. Was der Schritt politisch für die Parteien von CDU bis zur Linken bedeutet, lässt sich noch nicht absehen. Doch welche rechtlichen Konsequenzen hat die Ausgründung?
Erst einmal passiert laut dem Berliner Staatsrechtler Professor Alexander Thiele: gar nichts. Die Mitglieder des neuen "Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW)" sind aus der Linkspartei ausgetreten, einer neuen Partei gehören sie aber noch nicht an. Der Austritt aus der Linkspartei hat für den Fraktionsstatus keine Auswirkungen – solange die Abgeordneten-Gruppe um Sahra Wagenknecht keine neue Partei gründet. Das ist bisher nicht geschehen, und auch erst für Januar 2024 geplant. Gegründet haben Sahra Wagenknecht & Co. bisher nur das "Bündnis Sahra Wagenknecht", der als Verein die Parteistrukturen vorbereiten soll. Die Organisation als Verein dürfte daher vor allem taktische Gründe haben, wie Thiele vermutet. Denn wenn die BSW-Abgeordneten Mitglied in einer BSW-Partei statt nur in einem Verein wären, würde die Linksfraktion automatisch ihren Status verlieren.
Fraktionsmitglieder dürfen nicht parteipolitisch konkurrieren
Grund: § 10 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundestags (GO-BT). Er regelt, dass eine Fraktion erstens 5 Prozent der Mitglieder des Bundestags haben muss, die zweitens in einer gemeinsamen Partei sind oder zumindest nicht politisch miteinander konkurrieren. Aktuell sind in der Linksfraktion mehr als 5 Prozent der Mitglieder des Bundestags vertreten.
Solange die BSW-Abgeordneten keine Partei gründen, konkurrieren sie auch nicht mit den Abgeordneten der Linksfraktion. Laut Thiele ist dafür ein "parteiliches Konkurrenzverhältnis" erforderlich. Sobald die Abgeordneten um Wagenknecht formell einer Partei angehören, und sich somit zum Ziel setzen würden, auf Listen zu kandidieren, würde die jetzige Fraktion ihren Status daher automatisch kraft Gesetzes verlieren.
Linke-Abgeordnete haben es in der Hand
Vor der Parteigründung liegt es in der Hand der Abgeordneten in der Fraktion, den Fraktionsstatus zu bewahren. Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer haben angekündigt, die Fraktion nicht verlassen zu wollen. Somit entscheidend ist der Wille der verbliebenen Linke-Abgeordneten in der Fraktion, die die Fraktionsmehrheit bilden. Sie könnte gegen die BSW-Abgeordneten ein formelles Fraktionsausschlussverfahren einleiten. Das Verfahren ist gesetzlich nicht geregelt, richtet sich aber analog nach den Voraussetzungen für das Parteiausschlussverfahren aus § 10 Abs. 4 Parteiengesetz (PartG). Die Norm verlangt für einen Ausschluss einen vorsätzlichen Satzungsverstoß oder einen erheblichen Verstoß gegen die "Grundsätze oder Ordnung der Partei", der ihr schweren Schaden zufügt. Laut Thiele dürfte ein Fraktionsausschluss der Wagenknecht-Leute angesichts des aus parteipolitischer Sicht illoyalen und Image-schädlichen Verhaltens rechtlich zulässig sein.
Praktisch hält der Staatsrechtler ein solches Vorgehen aber für unwahrscheinlich. Denn der Fraktionsstatus sei für die "öffentliche Sichtbarkeit und Parlaments-interne Handlungsfähigkeit" essentiell. Gesetzesinitiativen, Besetzung und Vorsitz von Ausschüssen, Redezeit, Frage- und Klagerechte – all diese Rechte setzten den Fraktionsstatus entweder voraus oder ihr Umfang hänge ganz maßgeblich vom Status ab. Und auch faktisch sei der Fraktionsstatus von Relevanz: "Ohne Fraktion fehlt der Bundestagsverwaltung und den anderen Fraktionen schlicht der Ansprechpartner. Es gibt kaum Koordinations- und Abstimmungsmöglichkeiten", so Thiele. Alles in allem sei der Deutsche Bundestag rechtlich und tatsächlich auf Fraktionen ausgerichtet: "Mit dem Status gehen fast alle großen Rechte einher." Daher sei die Fraktionsauflösung zunächst unwahrscheinlich.
Parteigründung – und dann?
Zu einer Auflösung der Fraktion wird es aber spätestens bei der Parteigründung von BSW kommen – mit weitreichenden Konsequenzen:
Thiele vergleicht die Fraktionsauflösung mit der Auflösung einer Gesellschaft. Mit dem Status verliere die ehemalige Fraktion auch ihre Rechtsfähigkeit, und müsse infolgedessen abgewickelt werden. Das habe zum Beispiel hinsichtlich der Vermögenswerte und der Mitarbeitenden der Fraktion Konsequenzen. Insofern diene die Karenzzeit bis zur Fraktionsauflösung wohl auch der "sozialen Abfederung" – das wird man als Linker doch gern hören. Eine solche Abwicklung könne überaus komplex sein, und habe bei der FDP-Fraktion nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 beinahe dreieinhalb Jahre gedauert – also quasi bis zum Wiedereinzug ins Parlament, so der Staatsrechtler.
Und was folgt auf die Organisationsform als Fraktion? Die Abgeordneten einer Linkspartei könnten sich nach der Auflösung mangels Fraktionsstärke nur noch als Gruppe zusammenschließen, die auch kollektive Rechte in den Ausschüssen und hinsichtlich ihrer sachlichen und personellen Ausstattung genießt, aber dennoch bedeutend weniger als Fraktionen.
Etwas unklarer ist, ob sich auch die Abgeordneten des BSW als Gruppe zusammenschließen können. Bisher haben zehn Abgeordnete inklusive Sahra Wagenknecht ihre Zugehörigkeit erklärt. Die GO-BT gibt dabei keine Mindestanzahl vor. Insoweit liege die Entscheidung innerhalb der Selbstverwaltungsautonomie des Bundestags, dessen Mehrheit über den Gruppenstatus entscheiden kann. In der Vergangenheit wurden laut Thiele zwei Voraussetzungen für maßgeblich gehalten: Die politischen Ziele der Abgeordneten müssen im Wesentlichen übereinstimmen, und es müssen sich für die potentielle Gruppe mindestens fünf Abgeordnete zusammenfinden. Diese Mindestanzahl könnte angesichts des wachsenden Bundestags angehoben werden – mit neun Abgeordneten seien die Aussichten des BSW auf den Gruppenstatus aber gleichwohl positiv. Einen Anspruch auf den Zusammenschluss zur Gruppe haben die Abgeordneten aber dennoch nicht.
Prof. Dr. Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der Business & Law School in Berlin.
Bündnis Sahra Wagenknecht: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52980 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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