2/2: Auch Vergehen sind "schwerste Straftaten"
Im Übrigen soll der Abruf nur bei "schwersten Straftaten" zulässig sein. Der den Leitlinien beigefügte Katalog ist allerdings bemerkenswert lang. Neben den erwartbaren Delikten (staatsgefährdende Straftaten, Vergewaltigung, Mord, Totschlag, Menschenhandel, Kriegsverbrechen, etc.) finden sich dort auch bloße Vergehen wie beispielsweise das Einschleusen von Ausländern nach § 96 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (Strafmaß: sechs Monate bis zu zehn Jahre Haft) oder der Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften (Strafmaß: bis zu drei Jahre Haft oder Geldstrafe).
Der Zugriff auf die Daten soll unter Richtervorbehalt stehen, der auch in Eilfällen nicht durch die Staatsanwaltschaft ersetzt werden kann. Die Länder sollen die Möglichkeit bekommen, den Abruf der Verkehrsdaten in ihren Polizeigesetzen zu regeln, sofern Anhaltspunkte für "konkrete schwerste Gefahren" (die nicht näher präzisiert werden) vorliegen.
Bemerkenswert ist, dass die Personen, deren Daten abgerufen werden, hierüber informiert werden sollen – und zwar bereits vor dem Abruf. Allerdings soll "in Ausnahmefällen" auch eine heimliche Verwendung zulässig sein. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher Ausnahmefall vorliegen soll, erläutern die Leitlinien nicht.
Auch ansonsten bleiben einige zentrale Fragen offen. Beispielsweise ist im Papier davon die Rede, dass von Internetprovidern die dem Teilnehmer zugewiesene IP-Adresse und "eine eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt, sowie eine zugewiesene Benutzerkennung" gespeichert werden solle. Was sich hinter den letzten beiden Punkten verbirgt, bleibt im Dunkeln. Der prominent platzierte Hinweis, dass "elektronische Post" von der Speicherung ausgeschlossen sei, legt Abgrenzungsfragen (was ist mit Nachrichtendiensten à la WhatsApp?) nahe.
Der digitale Dammbruch
Manches bleibt somit noch unklar, für eine endgültige Bewertung ist es viel zu früh. Die Einführung eines neuen Tatbestandes der "Datenhehlerei" wird nur am Rande erwähnt, und auch hinsichtlich der Vorratsdatenspeicherung ist es von den Leitlinien über den Entwurf und die Verabschiedung eines Gesetzes bis zu dessen praktischer Anwendung durch Strafverfolgungsbehörden und Gerichte noch ein langer Weg, auf dem sich manche Parameter verschieben können.
Fest steht allerdings, dass die Einführung der für die Vorratsdatenspeicherung notwendigen Infrastruktur, welche die "nach dem Stand der Technik höchstmögliche Sicherheit der Daten" gewährleisten soll, einen beträchtlichen finanziellen Aufwand für die Internet- und Mobilfunkanbieter mit sich bringen wird. Dessen Kosten können sie sich bei der öffentlichen Hand zurückholen, sofern er "in solcher Weise erdrosselnde Wirkung hat, dass das Übermaßverbot verletzt ist" – andernfalls tun sie es bei den Kunden. Ebenfalls steht zu befürchten, dass die an wenigen Stellen gebündelte Speicherung gewaltiger Datenmengen ein attraktives Ziel etwa für ausländische Geheimdienste oder Hacker darstellen wird, deren Bestrebungen auch an vermeintlich oder tatsächlich modernsten Sicherheitsmaßnahmen nicht zwingend scheitern werden.
Schließlich lädt der einmal geschaffene technische und gesetzliche Rahmen zu seiner beliebigen späteren Ausweitung ein. Speicherfristen lassen sich verlängern, Regel-Ausnahme-Verhältnisse umkehren – der Widerstand gegen solche Feinschliffe wird dann vergleichsweise gering ausfallen.
Derartige Sorgen müssen sich nicht bestätigen; das Unwohlsein gegenüber der massenhaften Speicherung des eigenen Surf- und Kommunikationsverhaltens wird bei einem guten Teil der Bevölkerung aber bestehen bleiben – unabhängig davon, ob diese nun nach vier oder zehn oder hundert Wochen gelöscht werden. Ob die empirisch bislang nicht nachgewiesenen Verbesserungen in der Prävention und Verfolgung von Verbrechen diese Beschränkung der Privatsphäre werden rechtfertigen können, ist mehr als ungewiss.
Constantin Baron van Lijnden, Leitlinien zur Vorratsdatenspeicherung: . In: Legal Tribune Online, 15.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15247 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag