USA liefert Streumunition für die Ukraine: Legal und legitim?

von Dr. Patrick Heinemann

09.07.2023

Nach der Zusage der USA, die Ukraine mit Streumunition zu versorgen, ist vom Bruch des Völkerrechts die Rede. Doch wie sieht die Rechtslage aus und inwieweit ist diese Munition geächtet? Patrick Heinemann mit Einordnungen. 

Die Ankündigung der US-Regierung, der Ukraine für ihren Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren Artillerie-Streumunition zu liefern, ist in der Öffentlichkeit auf erhebliche Kritik gestoßen. Während sich die Bundesregierung bedeckt hält, erklärte SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner, der Einsatz von Streumunition sei zurecht international geächtet: "Wer im Namen der internationalen Ordnung und Werte handelt, liefert solche Waffen nicht."

Auch die Links-Partei verurteilte den Schritt: "Streubomben sind perfide Mordwerkzeuge des 21. Jahrhunderts, die den Geist des finstersten Mittelalters atmen", erklärte Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch auf Twitter. Seine Fraktionskollegin und Außenpolitikerin Sevim Dağdelen legte sich fest: Für sie ist der Einsatz von Streumunition durch die Ukraine "völkerrechtswidrig, verbrecherisch & Terror gegenüber Bevölkerung". Erwartungsgemäß kritisierte auch das russische Regime die angekündigte Lieferung als "eklatante Offenbarung des aggressiven antirussischen Kurses der USA", wie Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa in einem Kommentar erklärte.

Warum überhaupt Streumunition statt gewöhnlicher Artilleriegranaten?

Doch warum verlegen sich die USA bei ihren Lieferungen jetzt überhaupt auf Streumunition, anstatt wie bisher gewöhnliche Artilleriemunition in die Ukraine zu schicken? LTO fragte dazu den Militärfachmann Dr. Gustav Gressel, Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations (Berlin). Das Thema Streumunition habe aktuell zwei Dimensionen, eine militärische und eine politische: 

"Militärisch stehen die Ukrainer vor dem Problem, dass die Produktion gewöhnlicher Artilleriemunition bei uns nur schleppend angelaufen ist", so Gressel. Ein konventioneller Krieg führe zu einem immensen Verbrauch insbesondere von Artilleriegranaten: "Davon gibt es einfach zu wenig im Westen. Das gilt natürlich besonders für das sowjetische 152-mm-Kaliber, das die ukrainischen Streitkräfte weiterhin in großen Anteilen verschießen." Insoweit geht es also auch darum, Lücken in der bisherigen Munitionsversorgung zu schließen und die Ukraine überhaupt angriffs- und verteidigungsfähig zu erhalten.

Gressel erkennt in der Lieferung der Streumunition aber auch eine politische Dimension im Kontext des NATO-Gipfels in Vilnius: "Die Biden-Administration scheint eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine skeptisch zu sehen. Auch bei den dringend benötigten F-16-Kampfjets verhalten sich die USA sehr zögerlich, ja sogar bremsend. Um der beginnenden Frustration der Ukrainer etwas entgegenzusetzen, wollen die Amerikaner mit der Lieferung von Streumunition jetzt ein Signal der Stärke senden."

Völkerrechtliches Übereinkommen über das Verbot von Streumunition

Die kritischen Stimmen erwecken teils den Eindruck, mit der Lieferung der Streumunition durch die USA und ihrem voraussichtlichen Einsatz durch die ukrainischen Streitkräfte sei völkerrechtlich etwas nicht in Ordnung. Bei dieser Munitionsart, die sich in viele kleinere sogenannte Bomblets zerlegt und damit auf größere Flächen wirkt, besteht in der Tat die Gefahr von Blindgängern, die später die Zivilbevölkerung gefährden können. Andererseits bietet sie mit diesen Eigenschaften eine gegenüber gewöhnlichen Artilleriegranaten deutlich erhöhte Wirksamkeit. Doch wie ist hier überhaupt die Rechtslage?

Richtig ist, dass das im Jahr 2008 ausgehandelte Übereinkommen über Streumunition ihren Einsatz, ihre Herstellung sowie ihre Weitergabe verbietet. Allerdings ist dieser völkerrechtliche Vertrag von lediglich 111 Staaten ratifiziert worden – darunter insbesondere nicht von den USA, der Ukraine sowie Russland. Auch im Völkerrecht gilt nach Art. 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK) der Grundsatz, dass Verträge nur die jeweiligen Parteien und nicht unbeteiligte Drittstaaten binden. So haben etwa auch China, Israel und Brasilien die Konvention nicht unterzeichnet.

Kein Streumunitionsverbot kraft Völkergewohnheitsrechts

Kann sich das Verbot von Streumunition dennoch bei der nicht unerheblichen Anzahl von 111 Signatarstaaten als Völkergewohnheitsgerecht durchsetzen? Im Gespräch mit LTO erklärte Dr. Ralph Janik, der an der Sigmund Freud Privatuniversität zu Völkerrecht und Krieg (Wien) forscht: "Mit dem Völkergewohnheitsrecht wird viel Schindluder betrieben. Oft genug steckt dahinter mehr Wunschdenken als Realität."
Ob und wie ein Vertrag zur Entstehung einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel führen kann, sei zwar eine spannende akademische Frage. Aber hier spreche klar dagegen, dass das Abkommen über Streumunition nur 111 Vertragsparteien hat. "Das ist zwar durchaus viel, aber eben keine überwiegende Mehrheit der Staaten. Außerdem müsste man Länder wie die USA und die Ukraine oder auch Russland und China wohl als ‚persistent objector‘ einstufen, die selbst bei einer bestehenden Regel nicht gebunden sind", so Völkerrechtler Janik.

Unterscheidungsgebot beim Einsatz von Streumunition maßgeblich

Könnte ein ukrainischer Einsatz von Streumunition unabhängig davon auch gegen allgemeine Regeln des Kriegsvölkerrechts verstoßen? Ralph Janik weist gegenüber LTO auf das völkerrechtlich zwingende Unterscheidungsgebot hin, das die unterschiedslose Bekämpfung von Zivilisten und Kombattanten verbietet:

"Das ist eines der zwei Kardinalprinzipien des humanitären Völkerrechts. Zivilisten dürfen niemals gezielt angegriffen werden. Wenn sie indirekt von Angriffen betroffen sind, ist immer noch die Verhältnismäßigkeit zum militärischen Vorteil zu wahren. Übrigens sind nicht nur die Zivilisten des Gegners, sondern auch die ‚eigenen‘ geschützt. Die Ukraine hat aber bereits angekündigt, Streumunition nur dort einzusetzen, wo sich ausschließlich russische Soldaten befinden. Nach Ende der Kampfhandlungen sind die Gebiete zu räumen, um sie wieder bewohnbar zu machen. Das wird enorme Anstrengungen brauchen, weil sie bereits jetzt vom Krieg vollkommen verseucht sind." Der voraussichtliche Einsatz von Streumunition ist also nicht nur völkerrechtmäßig. Vielmehr wird man vor diesem Hintergrund auch davon ausgehen müssen, dass die ukrainische Führung sich hierfür nicht leichtfertig entscheidet.

Unterschiede des Einsatzes zwischen Russland und der Ukraine

Sowohl Russland als auch die Ukraine haben im gegenwärtigen Krieg schon Streumunition eingesetzt. Doch gibt es hier in der Tat beachtliche Unterschiede, wie Gustav Gressel gegenüber LTO erklärt: "Die ukrainischen Streumunitionsbestände waren und sind deutlich geringer als die russischen. Vor allem aber setzen die Ukrainer Streumunition nur gegen militärische Ziele ein, während die Russen damit auf Wohngebiete schießen und gezielt Zivilisten ins Visier nehmen. Das haben wir vor allem in Charkiw und Cherson gesehen, wo die Anzahl der zivilen Opfer hoch war."

Gustav Gressel kommt auch auf das Problem der Blindgänger zu sprechen, die noch Jahre nach Ende der Kampfhandlungen zu zivilen Opfern führen können. So gebe es je nach Generation und Typ der Streumunition erhebliche Unterschiede bei der Blindgängerrate: "Bei der alten sowjetischen Munition reden wir von etwa 5 bis 40 % Blindgängern, wobei die Höhe im konkreten Fall wiederum sehr abhängig ist von der Härte des Untergrunds, auf den die einzelnen Bomblets aufschlagen. Bei den jetzt gelieferten Artilleriegeschossen westlicher Bauart ist dagegen von einer Blindgängerrate von etwa 2 bis 4 % auszugehen, auch hier abhängig vom Untergrund." Hinzu komme, dass die Zünder des gelieferten Typs DPICM M864 witterungsbeständiger seien als die sowjet-russischen Pendants. Das mache die spätere Räumung deutlich weniger gefährlich, die nicht explodierten Bomblets verhielten sich dann später nicht wie eine Mine.

Ethisch verwerflich?

Eine völlige andere Frage ist natürlich, wie man die US-Lieferung von Streumunition in Anbetracht der verbleibenden Risiken ethisch beurteilt. So appellieren nicht wenige Kritiker, ihr Einsatz sei wegen der Gefahren für die Zivilbevölkerung unabhängig von der völkerrechtlichen Zulässigkeit verwerflich. In vielen ukrainischen Ohren klingt derlei Kritik von der Seitenlinie allerdings wohlfeil:

"Der Aufschrei der Schein-Moralisten gegen Streumunition kommt ja nur, wenn die Ukraine sich verteidigt und nicht, wenn ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten mit russischer Streumunition ermordet werden", so Krista-Marija Läbe. Sie ist Sprecherin von Vitsche, einem Verein junger Ukrainerinnen und Ukrainer, der ukrainischen Perspektiven in Deutschland Gehör verschafft. Läbe weist darauf hin, dass sämtliche Munition, eigene wie feindliche, fast ausschließlich auf ukrainisches Gebiet niederregnet. Sie fordert deshalb: "Überlasst die Risiko-Nutzen-Abwägung doch den betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainern, die in der konkreten Situation Entscheidungen treffen und um ihr Überleben kämpfen müssen."

Zitiervorschlag

USA liefert Streumunition für die Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52192 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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