Im Pilotfall des Seniorenzentrums Mühlehof empfiehlt der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) die Öffnung der Cafeteria für geimpfte und genesene Bewohner. Christian Rath erläutert das bundesweit beachtete Verfahren.
Können Corona-Beschränkungen auch gegenüber Covid-Geimpften aufrechterhalten werden? Diese Diskussion geht nun in die entscheidende Phase, nachdem das Robert-Koch-Institut (RKI) am 31. März den Forschungsstand neu zusammenfasste. Danach ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15.Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis stark reduziert. Selbst wenn es nach einer Impfung noch zu einer Infizierung komme, sei "die Viruslast signifikant reduziert" und halte "weniger lange" an, so das RKI. Geimpfte würden bei der Ausbreitung der Krankheit "wahrscheinlich keine wesentliche Rolle mehr spielen".
Vor diesem Hintergrund wird nun weithin gefordert, dass die Landesregierungen ihre Corona-Verordnungen anpassen müssen. Und wo dies nicht geschehe, könnten dies die Gerichte erzwingen. Klagen von Geimpften werden dabei ebenso gute Chancen eingeräumt wie Klagen von Gastronomen und Kultureinrichtungen, die für Geimpfte öffnen wollen.
Große Beachtung findet daher das Verfahren des Seniorenzentrums Mühlehof in Steinen bei Lörrach (in Südbaden), das schon seit Februar läuft. Kein anderer Fall ist juristisch derart weit vorangeschritten. Das Verfahren wird deshalb vielfach als Musterfall zur Klärung der Rechte von Geimpften gesehen.
Eine Cafeteria gegen die Vereinsamung
Konkret geht es um die Einrichtung des Mühlehofs für betreutes Wohnen. Dort war die Cafeteria "Kaffemühle" der Gemeinschaftsraum, ja das gemeinsame "Wohnzimmer" der Senioren. Seit Monaten ist die Cafeteria jedoch wie alle gastronomischen Einrichtungen in Baden-Württemberg aufgrund § 13 Abs. 1 Nr 11 CoronaVO BaWü geschlossen.
Die 56 Bewohner:innen bekamen zwar ihr Essen aufs Zimmer bzw. aufs Appartement gebracht, aber sie konnten sich nicht mehr gemeinsam in der Cafeteria treffen. Denn rechtlich gilt jedes Zimmer im betreuten Wohnen als eigener Haushalt. Die Hausleitung stellte fest, dass die Bewohner:innen immer mehr unter Isolation und Vereinsamung litten. Dies führe zu psychischen und anderen gesundheitlichen Problemen.
Der Mühlehof beantragte deshalb im Februar eine Ausnahmegenehmigung für die "Kaffeemühle". Die 51 geimpften Bewohner:innen sollten sich dort wieder zum Essen und zum Kaffetrinken treffen können. Die Bewirtschaftung solle ausschließlich durch geimpftes Personal erfolgen. Besucher von außen sollten nicht zugelassen werden. In § 20 Abs. 2 CoronaVO BaWü heißt es: "Die zuständigen Behörden können aus wichtigem Grund im Einzelfall Abweichungen von den durch diese Verordnung oder aufgrund dieser Verordnung aufgestellten Vorgaben zulassen."
Klagen und Verfassungsbeschwerden
Doch das Landratsamt Lörrach lehnte den Antrag ab. Eilanträge des Mühlehofs scheiterten beim Verwaltungsgericht Freiburg (Beschluss vom 3. März, Az.: 8 K 435/21) und beim VGH Mannheim (Beschluss vom 18. März, Az.: 1 S 774/21). Begründung: Es sei "bislang nicht wissenschaftlich bewiesen, dass eine Weiterübertragung (Transmission) des Coronavirus SARS-CoV-2 durch geimpfte oder genesene Personen nicht mehr möglich" sei, so der VGH. "Die vorhandene Datenlage reicht derzeit schlicht für eine valide Beurteilung der Situation nicht aus."
Gegen die Ablehnung legte der Mühlehof, eine gemeinnützige GmbH, Ende März Verfassungsbeschwerde ein, verbunden mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung. Die Einrichtung berief sich vor allem auf die Berufsfreiheit. Das Gastronomieverbot greife "in die von Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Freiheit der Beschwerdeführerin ein, ihren Betrieb nach eigenen Vorstellungen frei zu gestalten". Daneben wurde auch die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) gerügt.
Mit gleichem Schriftsatz erhob auch ein 79-jähriger Bewohner der Einrichtung Verfassungsbeschwerde. Er berief sich auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und den Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).
Ein Vergleich als Ausweg
Kurz zuvor hatte der Mühlehof bereits eine Anhörungsrüge gem. § 152a Verwaltungsgerichtsordnung (VWGO) beim VGH eingereicht. Dieser habe in seinem Beschluss vom 18. März die zahlreichen vom Mühlehof vorgelegten wissenschaftlichen Studien und Stellungnahmen zur stark verringerten Infektiosität von Geimpften in wesentlichen Punkten übergangen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) signalisierte noch vor Ostern, dass es die VGH-Entscheidung über die Anhörungsrüge abwarten werde.
Der VGH hat zwar noch nicht über die Anhörungsrüge entschieden, zeigte sich aber doch durch die neue RKI-Stellungnahme beeindruckt. Er teilte am gestrigen Dienstag mit, nach vorläufiger Einschätzung sprächen überwiegende Gründe dafür, "dass aufgrund der geänderten Erkenntnislage des Robert Koch-Instituts ein Anspruch auf die Ausnahmegenehmigung nun zu bejahen" sei.
Allerdings könnten die neuen Tatsachen nicht im Verfahren der Anhörungsrüge geltend gemacht werden, so der VGH. Auch könne der VGH seinen ablehnenden Eilbeschluss vom 18. März nicht einfach im Verfahren gem. § 80 Abs. 7 VwGO abändern, da er als Berufungsinstanz nicht das "Gericht der Hauptsache" sei.
Als Ausweg schlug der VGH den Beteiligten deshalb einen Vergleich vor. Demnach soll das Landratsamt den Betrieb der Cafeteria als Gemeinschaftsraum für die geimpften oder genesenen Bewohner wieder erlauben. Im Gegenzug würde der Rechtsstreit für erledigt erklärt.
Wie es weitergeht
Rechtsanwalt Patrick Heinemann, der den Mühlehof vertritt, reagierte halb erfreut, halb verärgert auf den Vergleichsvorschlag. Positiv sei, dass der Mühlehof nun "uneingeschränkt das erhalten" würde, was er beantragt hatte. Allerdings sei es "ungewöhnlich und bemerkenswert", wie der VGH in der Form eines Vergleichs versuche, "seine Fehlentscheidung vom 18. März zu korrigieren". Schließlich beruhe die Neu-Bewertung des RKI "auf exakt den Studienergebnissen, die der Mühlehof bereits am 19. Februar dem Verwaltungsgericht Freiburg vorgelegt hatte", so Heinemann. "Es liegen somit mitnichten neue Erkenntnisse vor."
Das Landratsamt Lörrach wollte auf Anfrage nicht zu dem Vergleichsvorschlag Stellung nehmen. Der Vorschlag werde "in enger Abstimmung mit dem Landesgesundheitsamt und dem Sozialministerium" geprüft. Sozialminister in Baden-Württemberg ist der Grüne Manne Lucha.
Laut VGH müssen beide Seiten bis zum 12. April mitteilen, ob sie dem Vergleich zustimmen. Sollte das Landratsamt ablehnen, würde wohl das BVerfG alsbald über die Verfassungsbeschwerde des Mühlenhofs entscheiden.
Unterschiede zur normalen Gastronomie
Eine solche Entscheidung hätte sicher eine deutlichere Signalwirkung als eine Lösung per Vergleich - auch wenn der Vergleich auf einer deutlich geäußerten Rechtsauffassung des VGH beruht. Vermutlich wird deshalb auch das Landratsamt dem Vergleichsvorschlag zustimmen.
Die Bedeutung des Verfahrens ist vor allem für vergleichbare Senioreneinrichtigungen groß. Dagegen ist die Abwägung, die in derartigen Fällen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist, nicht für andere gastronomische Konstellationen verallgemeinerbar. Die Belastung der Senior:innen wegen ihrer geschlossenen Cafeteria sind wohl ungleich höher als die Beeinträchtigungen normaler Restaurantgänger:innen, die derzeit nicht bei ihrem Lieblings-Italiener sitzen können.
Auch die Lage der Betreiber des Seniorenzentrums ist kaum mit der von normalen Gastronomen vergleichbar. Während die Cafeteria des Mühlehofs eher sozialarbeiterischen Charakter hat, geht es in der Gastronomie sonst vorrangig um das ökonomische Interesse
Ein dritter wesentlicher Unterschied liegt darin, dass in der Mühlehof-Cafeteria bereits ausreichend geimpftes Personal zur Verfügung steht - was für ein normales Restaurant angesichts der aktuellen Impfprioritäten eher schwer zu realisieren sein dürfte.
Vergleichsvorschlag des VGH Mannheim: . In: Legal Tribune Online, 07.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44671 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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