Die Bedeutung von Umfragen vor der Bundestagswahl wird zunehmen. Das VG Wiesbaden hat Forsa im Streit mit dem Bundeswahlleiter Recht gegeben. Und die Entscheidung verfassungsrechtlich begründet.
Am Ende entscheidet es sich im Verfassungsrecht. So auch bei der Anwendung einer Vorschrift aus dem Bundeswahlgesetz auf den Streit zwischen dem Meinungsforschungsinstitut Forsa und dem Bundeswahlleiter im Vorfeld der Bundestagswahl. Das Meinungsforschungsinstitut darf in seine sogenannte "Sonntagsfrage" auch die Briefwählerbefragungen einbeziehen, das hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden vorläufig in einem Eilverfahren entschieden (Beschluss v. 16.09.2021, Az. 6 L 1174/21.WI). Die Entscheidung hat besondere Bedeutung, weil mit einer Rekordzahl an Briefwählerinnen und Briefwählern bei der Bundestagswahl 2021 gerechnet wird.
Das Gericht sieht in seiner Entscheidung von Donnerstag keinen Verstoß gegen § 32 Abs. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG). Die Vorschrift bestimmt, dass die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig ist.
Die Vorschrift des § 32 Abs. 2 BWahlG enthält nach Auffassung des VG aber "voraussichtlich kein Verbot der Veröffentlichung von Umfragen im Vorfeld der Wahl, bei denen in aggregierter Form auch die Angaben von Wählern, die bereits per Briefwahl abgestimmt haben, enthalten sind."
VG: Auslegung in zwei Richtungen denkbar
Zunächst musste sich die Kammer mit der Frage beschäftigen, ob das Verbot des § 32 Abs. 2 BWahlG nicht nur für den Wahltag, sondern auch für den Zeitraum im Vorfeld der Wahl und damit für die Briefwählerschaft, die ihre Stimme schon abgegeben hat, gilt. Der Wortlaut des § 32 Abs. 2 BWahlG lasse eine Auslegung in beide Richtungen zu, so die Kammer des VG. Nach einem Blick in die Gesetzesmaterialien resümieren die Richter: " Der Gesetzgeber hat sich demnach für eine weitergehende Formulierung als in der Gesetzesinitiative entschieden und die Beschränkung auf den Wahltag in Kenntnis der alternativen Formulierung unterlassen, auch wenn die Motive für den Wechsel der Formulierung nicht zu ermitteln sind." Das würde also dafür sprechen, das Verbot nicht nur auf den Wahltag, sondern auch auf den Zeitraum im Vorfeld der Wahl zu erstrecken. Nichts anderes ergebe sich nach einer Auslegung orientiert an Systematik und Zweck.
In einem weiteren Schritt misst das Gericht die Vorschrift aber an den Kommunikationsfreiheiten des Grundgesetzes. "Maßgeblich ist dabei, ob die Veröffentlichung von Umfragen unter Einbeziehung von Nachwahlbefragungen von Briefwählern eine illegitime Wahl- bzw. Wählerbeeinflussung darstellt, oder ob sie als Element der Wahlkampfberichterstattung einen Platz im öffentlichen Diskurs und Meinungsbildungsprozess hat."
Die Kammer schließt sich der letzteren Auffassung an und legt § 32 Abs. 2 BWG eng aus. Sinngemäß begründet sie dies damit, dass verfassungsrechtliche Gründe die Veröffentlichung von Umfragen unter Einbeziehung von Nachwahlbefragungen von Briefwählerinnen und Briefwählern jedenfalls im Vorfeld des Wahltags gebieten würden.
Bedeutung für öffentlichen Diskurs und Meinungsbildungsprozess
Nicht nur die Handlungsfreiheit des Meinungsforschungsinstituts sei betroffen, sondern mittelbar auch das Recht der freien Berichterstattung von Medien nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG), die sich für ein Stimmungsbild auf die Daten der Institute verlassen.
Die freie Bildung des Wählerwillens nach Art. 38 Abs. 1 GG wird durch die Veröffentlichung von Umfragen unter Einbeziehung von Nachwahlbefragungen von Briefwähler:innen im Vorfeld des Wahltags nicht beeinträchtigt. Hierzu greift die Kammer auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. Es sei keine Beeinträchtigung der Entscheidung einzelner Wähler zu erkennen, ebenso wenig wie eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien.
Eine bemerkenswerte Ausführung lautet: "Soweit Wähler im Angesicht einer vermeintlich bereits entschiedenen Wahl darauf verzichten, ihre Stimme abzugeben, machen sie
ebenfalls Gebrauch von ihrer Freiheit, sich am demokratischen Willensbildungsprozess (nicht) zu beteiligen. Dieses Ergebnis mag aus verfassungspolitischer Sicht und mit
Blick auf eine wünschenswerte hohe Wahlbeteiligung bedauerlich sein, ist einem Wahlrecht, dass keine Wahlpflicht kennt, aber immanent."
Unter dem Strich heißt das für das VG: "Insoweit erscheint eine restriktive Auslegung von § 32 Abs. 2 BWG zwingend geboten, um der grundrechtlichen Position der Antragstellerin und der hinter ihr stehenden Medien Rechnung zu tragen", heißt es in dem Beschluss.
"Das Verwaltungsgericht hat überzeugend dargelegt, dass es keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Grund gibt, die Umfrageinstitute zu einer künstlichen Verschlechterung der von ihnen erhobenen Daten zu zwingen. Die Veröffentlichung bestmöglicher Umfragedaten ist im Gegenteil Ausdruck der vom Grundgesetz geschützten Informationsfreiheit mündiger Bürger", sagte Medienanwalt Dr. Till Dunckel, Partner der Hamburger Kanzlei Nesselhauf, der die Antragstellerin vertreten hat.
Beschwerde beim VGH Hessen noch möglich
Dem Feststellungsantrag sei zu entsprechen, weil die dazugehörige Feststellungsklage in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein werde, so heißt es in dem Beschluss. Außerdem sei die Sache auch eilbedürftig, denn eine Entscheidung in der Hauptsache sei vor der Bundestagswahl nicht mehr zu erwarten. Das Meinungsforschungsinstitut müsste anderenfalls unter dem Eindruck des angedrohten Bußgeldverfahrens auf ihr "Kerngeschäft" im Vorfeld der Wahl verzichten, so das VG.
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa fragt zufällig ausgesuchte Bürgerinnen und Bürger nicht nur "Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, wen würden sie wählen?", sondern auch, ob jemand schon per Brief gewählt hat und, wenn ja, wen. Zuletzt erschien am 14. September eine solche "Sonntagsfrage" von Forsa.
Der Bundeswahlleiter hatte gebeten, bis zur Schließung der Wahllokale am 26. September um 18:00 Uhr "keine Umfrageergebnisse zu veröffentlichen, in denen Antworten von Wählern, die bereits ihre Stimme per Briefwahl abgegeben haben, verarbeitet sind". Er berief sich dabei auf einen Verstoß gegen das BWahlG und drohte eine Geldbuße bis zu 50.000 Euro an. Bei den zurückliegenden Landtagswahlen des Jahres 2021 wurde eine vergleichbare Aufforderung durch die zuständigen Landeswahlleiter nicht versandt, wie das Gericht feststellt.
Forsa hingegen war der Ansicht, dass eine Veröffentlichung der Ergebnisse vor der Wahl nicht gegen § 32 BWahlG verstoße. Die Daten würden nur "aggregiert" mit den übrigen Umfrageergebnissen veröffentlicht, so dass eine Mischung von Antworten von Briefwähler:innen und Wähler:innen erfolge. Die Angaben der Briefwählerinnen und Briefwähler würden nicht gesondert ausgewiesen.
Gegen die Entscheidung kann noch Beschwerde eingelegt werden. Über die Beschwerde würde dann der Hessische Verwaltungsgerichtshof entscheiden.
Briefwähler-Entscheidung des VG Wiesbaden: . In: Legal Tribune Online, 16.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46038 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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