Am Freitag veröffentlicht das BVerfG einen mit Spannung erwarteten Beschluss: Eine wegen Mordes Verurteilte pocht auf Wiederaufnahme ihres Prozesses, nachdem der EGMR die Befangenheit eines Richters gerügt hatte.
Am Freitag blicken nicht nur viele Strafrechtler gespannt nach Karlsruhe. Auch Examenskandidaten dürfen aufmerksam sein, wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage klärt, unter welchen Voraussetzungen ein Strafverfahren zwingend nach § 359 Nr. 6 Strafprozessordnung (StPO) wieder aufgenommen werden muss, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt hat.
Der Rechtsstreit, der der Verfassungsbeschwerde von Salina M. vom 24. August 2022 zugrunde liegt (Az. 2 BvR 1699/22), hat in der Strafrechtswissenschaft für gewisse Furore gesorgt. Es gab dazu diverse Aufsätze in Fachzeitschriften, dem Verfassungsblog und auch in juristischen Festschriften.
Beschwerdeführerin M. war 2014 als Mittäterin vom Landgericht (LG) Darmstadt wegen Mordes aus Habgier an ihrem Ex-Mann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Bei der Entscheidung des LG hatte jedoch ein Richter – sogar als Vorsitzender der Kammer – mitgewirkt, der schon zuvor an einem, dieselbe Tat betreffenden Verfahren gegen den damals als Alleintäter wegen Mordes verurteilten Lebensgefährten von M. beteiligt gewesen war. Gegen beide war seinerzeit nicht zusammen verhandelt worden, da M. zunächst nur als Zeugin der Tat in Betracht kam. Im Urteil gegen ihren Lebenspartner gab es aber gleichwohl diverse Ausführungen zu ihrer möglichen Tatbeteiligung.
Deutsche Gerichte halten LG-Richter nicht für befangen
Auf der Hand lag also die Frage: War der Richter, der M. als Vorsitzender der Kammer des LG Darmstadt zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilte, voreingenommen, weil er sich in einem Verfahren zuvor schon intensiv mit ihr befasst hatte?
Mit ihrem insoweit eingereichten Befangenheitsantrag scheiterte die Frau nicht nur vor dem LG, sondern später auch im Rahmen ihrer Revisionsrüge vor dem Bundesgerichtshof (Urt. v. 10.02.2016, Az. 2 StR 533/14). Beide Gerichte sahen die Mitwirkung des Richters in beiden Verfahren als unproblematisch an. Zwar habe dieser als Berichterstatter auch im ersten Verfahren mitgewirkt. Dies begründe jedoch nicht die Besorgnis seiner Voreingenommenheit. Soweit sich im Urteil gegen M.s Lebenspartner Ausführungen auch zur Tatbeteiligung der Frau befänden, so seien diese schon zur Vermeidung von Darstellungsmängeln geboten gewesen. Sie enthielten jedenfalls keine weiteren Anhaltspunkte für eine Voreingenommenheit des Richters, entschied der BGH.
Eine daraufhin eingelegte Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Mordes nahm das BVerfG mit Beschluss vom 11. Juli 2016 (Az. 2 BvR 1168/16) erst gar nicht zur Entscheidung an.
EGMR sieht Verstoß gegen die EMRK
Recht bekamen M. und ihr Frankfurter Strafverteidiger Hans Wolfgang Euler allerdings später vor dem EGMR. Dieser stellte im Februar 2021 fest, dass die Verurteilung der Frau wegen der Beteiligung des Richters einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle (Individualbeschwerde Nr. 1128/17). Die Befürchtung, der Richter könne nicht unparteiisch sein, sei gerechtfertigt, wenn dieser zuvor in einem anderen Verfahren als Berichterstatter an der Verurteilung eines mutmaßlichen Mittäters mitgewirkt und in jener Entscheidung das Verhalten des Angeklagten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gewürdigt habe, so der EGMR.
Mit dem Triumph aus Straßburg im Gepäck wandten sich M. und ihr Verteidiger schnurstracks wieder an das LG Darmstadt und beantragten dort im Juli 2021 die Wideraufnahme des Strafverfahrens. Grundlage dafür ist § 359 Nr.6 StPO, der lautet: "Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht."
Außerdem verwies Verteidiger Euler auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Ziff. 3 StPO, wonach ein Urteil "stets" auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, wenn bei diesem ein Richter mitgewirkt hat, der befangen ist. Dieser Auffassung pflichtete auch die Staatsanwaltschaft Kassel in ihrer Stellungnahme bei. Das Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen Art. 6. EMRK sei analog zu § 338 Nr. 3 StPO anzunehmen.
Wiederaufnahme abgelehnt
Also eigentlich ein klarer Fall – oder? Mitnichten. Der Vorsitzende der für das Wiederaufnahmeverfahren zuständigen Strafkammer des LG Kassel stellte klar, dass man es sich so leicht wie M. und ihr Verteidiger nicht machen dürfe. Erforderlich sei vielmehr ein schlüssiger Vortrag, dass das Urteil auf dem EMRK-Verstoß auch wirklich "beruht". Das "Beruhen" werde jedenfalls "nicht bereits durch den festgestellten Konventionsverstoß unwiderleglich vermutet". Kurzum: Mit ihrem Wideraufnahmebegehren scheitert M. sowohl im März 2022 vor dem LG Kassel als auch im Juli 2022 mit ihrer Beschwerde beim Oberlandesgericht Frankfurt (Az. 1 Ws 21/22). Auch dieses forderte, dass der Wiederaufnahmeantrag eine "aus sich heraus verständliche, geschlossene Sachverhaltsdarstellung" enthalten müsse.
Mit der Verfassungsbeschwerde macht M. angesichts ihres absolvierten Verfahrensmarathons – es ging über Darmstadt, Karlsruhe, Kassel, Frankfurt, Straßburg nun zurück nach Karlsruhe – geltend, in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)), in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in Gestalt des Willkürverbots und in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt zu sein.
Unter anderem wendet sie sich gegen die Auffassung, sie müsse detaillierte Anhaltspunkte dafür darlegen, dass sich der EMRK-Verstoß (also die Beteiligung des Richters) auf die Entscheidung des LG Darmstadt ausgewirkt haben könnte. Damit werde ihr Unmögliches abverlangt, da sie keine Kenntnis vom Inhalt der gerichtlichen Beratungen haben könne, die Grundlage des Urteils gewesen sind.
GBA-Schriftsatz sorgt für Verwunderung
Mit Erstaunen hat man bei der Verteidigung auch die Rechtsansicht des Generalbundesanwaltes (GBA) zur Kenntnis genommen. Dieser hält in seiner Stellungnahme vom 30. März 2023 an das BVerfG, die LTO vorliegt, M.s Verfassungsbeschwerde für unzulässig und unbegründet. Nach Auffassung des GBA hätte M. wegen der auch vom OLG Frankfurt angemahnten Sachverhaltsdarstellung einen neuen, formal korrekten Wiederaufnahmeantrag stellen müssen. Weil sie bzw. ihr Verteidiger dies aber nicht tat, sei der Rechtsweg nicht ausgeschöpft worden, die Beschwerde mithin unzulässig. Darüber hinaus aber fehlten dem Wiederaufnahmeantrag die angeblich von § 359 Nr. 6 StPO geforderten Ausführungen, ob ein anderer Richter oder eine andere Richterin bei einer "rational begründeten Entscheidungsfindung" aufgrund der durchgeführten Hauptverhandlung auch zu einem anderen Ergebnis hätten gelangen können.
Hätten sich M. und ihr Verteidiger aus Sicht des GBA also vielleicht mal ein paar Tage in einen Richter hineinversetzen müssen? M.s Verteidiger Euler wies diese Vorstellung in einem Schriftsatz an das BVerfG empört zurück. Die Auffassung des GBA sei "mit dem Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht zu vereinbaren", heißt es in Eulers Schriftsatz vom 2. Mai 2023 an das BVerfG. Er wundere sich, dass es seiner Mandantin zumutbar sein soll, "ausschließlich eine sonst nur Richtern vorbehaltene Feststellung ex post – nämlich nach der Hauptverhandlung vor dem Fachgericht – mit eigenen Darlegungen zu möglichen Fehlern zu präsentieren". Die Feststellung strafrechtlicher Schuld oder Nichtschuld sei ausschließlich Sache von unabhängigen, unparteiischen und unbefangenen Richtern am Ende einer nach den Regeln der StPO durchgeführten Beweisaufnahme. "Daran hat es in dem fachgerichtlichen Verfahren vor dem Landgericht Darmstadt offensichtlich gefehlt, wie von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zutreffend dargelegt worden ist." Die "unqualifizierten" Forderungen des GBA seien ihm im Übrigen zuvor weder in einem Urteil noch in irgendeiner Literaturmeinung zu hören gekommen.
Strafrechtler: "Verfassungsbeschwerde begründet"
In diversen Veröffentlichungen bekommt der Strafverteidiger aus der Fachwelt Unterstützung. Strafrechtler wie z.B. Morten Boe im Verfassungsblog warnen davor, dass die vom OLG Frankfurt und GBA vertreten Auffassung, M. trage hinsichtlich des Beruhens die Beweislast, zu einer "substanziellen Einschränkung" der Wiederaufnahmemöglichkeit gem. § 359 Nr. 6 StPO bei konventionsrechtswidrigen Verfahrensverstößen führen könne.
Auch der Berliner Strafverteidiger Prof. Dr. Stefan König steht auf dem Standpunkt, dass für einen Wiederaufnahmeantrag, der nach § 359 Nr. 6 StPO auf die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK wegen Mitwirkung eines nicht unparteiischen Richters durch den EGMR gestützt wird, der bloße Vortrag über die unzulässige Mitwirkung eines solchen Richters ausreicht. "Vom Beruhen des Urteils auf diesem Konventionsverstoß im Sinne des i.S.d. § 359 Nr. 6 StPO ist unwiderleglich auszugehen", schrieb er in einem Beitrag für den Strafverteidiger (Heft 05/2022). König erwartet, dass das BVerfG der Beschwerde M.s stattgibt.
Dass das BVerfG "die in mehrfacher Hinsicht unvertretbare Entscheidung des OLG Frankfurt aufhebt und endlich den Weg dafür freimacht, dass der Mordvorwurf gegen M. durch ein unvoreingenommenes Gericht neu verhandelt wird", erwartet auch der Düsseldorfer Strafrechtslehrer Prof. Dr. Helmut Frister: "Außerdem steht zu hoffen, dass das Gericht für künftige Fälle klarstellt, dass die Wiederaufnahme gemäß § 359 Nr. 6 StPO ohne eine weitere Beruhensprüfung stets begründet ist, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, dass ein in einem Strafverfahren ergangenes Urteil selbst konventionswidrig ist", so Frister im Gespräch mit LTO.
Entscheidung erst nach Verzögerungsrüge
Auf die Entscheidung Karlsruhes, die am Freitag veröffentlicht wird, darf man also gespannt sein. Dass diese jetzt kommt, liegt übrigens vielleicht auch am Drängen der Verteidigung: Rechtsanwalt Euler hatte eine Verzögerungsrüge gemäß § 97b Bundesverfassungsgerichtsgesetz beim BVerfG eingereicht. Darin verweist der Anwalt darauf, dass seine Mandantin seit 2016 in Strafhaft sitze. Zudem könne er die lange Beratungszeit im Zweiten Senat nicht nachvollziehen. Schließlich seien die Rechtsfragen und der Sachverhalt eindeutig.
BVerfG vor Grundsatzbeschluss: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53722 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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