Überflüssige Organtransplantationen und Zitronensaft zur Desinfektion: Das LG Mönchengladbach hat einen ehemaligen Chefarzt wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung verurteilt. Das Urteil ist das Ergebnis eines "Deals", der Mediziner soll nicht aus Profitstreben gehandelt haben. Stefan Rusche über ein mildes Urteil und die Folgen des Sparzwangs in der Medizin.
Er war Inhaber, ärztlicher Direktor und verantwortlicher Chirurg in der durch den Skandal zu traurigem Ruhm gelangten Klinik Wegberg. Das Wissens- und damit auch das Machtgefälle zwischen ihm und seinen Patienten entsprach demjenigen aller Ärzte, in deren Hände Patienten ihre Gesundheit und ihr Leben legen.
Viele Ermittlungsverfahren wegen ärztlicher Fehler werden eingestellt, in der Regel wegen Beweisschwierigkeiten. Das Landgericht (LG) Mönchengladbach aber sprach Dr. P. unter anderem wegen des Einsatzes von Zitronensaft als Desinfektionsmittel schuldig. So soll ein Patient beispielsweise schon aus Mund und entzündeter Bauchwunde nach Fäkalien gerochen haben - und wurde dennoch völlig unzureichend mit Zitronensaft als günstigem und vermeintlich wirksamen Desinfektionsmittel behandelt.
Der Chefarzt entfernte Organe, die nicht hätten entfernt werden müssen, Blinddärme, eine Gallenblase und eine Niere seien ohne Notwendigkeit und ohne Einwilligung der Patienten entnommen worden, so der Vorsitzende Richter Lothar Beckers. Vier Patienten haben die Behandlung nicht überlebt.
P. wurde wegen zweifacher Körperverletzung mit Todesfolge, zwei fahrlässiger Tötungen und 21 Fällen von Körperverletzung verurteilt. Wegen der überlangen Verfahrensdauer gelten davon 11 Monate bereits als verbüßt. Zudem muss der 54-Jährige im Adhäsionsverfahren 30.000 Euro an einen Nebenkläger zahlen.
Außerdem darf er seinen Beruf vier Jahre nicht ausüben. Beckers ging in seiner Urteilsbegründung auch auf die Ängste der Opfer und Hinterbliebenen ein, P. könnte bald wieder Menschen behandeln. Die Chancen P.s, wieder eine Approbation zu erhalten, "liegen im Promillebereich", sagte der Kammervorsitzende. Auch nach Auslaufen des jetzt verhängten zeitlich befristeten Berufsverbots werde er nie wieder als Arzt arbeiten können, weil nicht zu erwarten sei, dass die zuständigen Verwaltungsbehörden dem Angeklagten seine Approbation, die ihm bereits vorläufig entzogen ist, erteilen würden.
Prozessökonomie vor Wahrheitsfindung?
Der Arzt hatte nach anderthalb Jahren des Schweigens gegen die Zusicherung von Strafmilderung ein Geständnis abgelegt und sich der vierfachen fahrlässigen Tötung und dreifachen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig bekannt.
Nach 37 Prozesstagen hatte in dem so genannten Kartonverfahren, in dem die Prozessunterlagen schon lange nicht mehr in Aktenordnern Platz fanden, das Gericht eine Verständigung vorgeschlagen, um so einen noch Jahre dauernden Prozess zu vermeiden. Die Strafkammer stellte dem Chefarzt ein Strafmaß mit einer Obergrenze von 4 Jahren in Aussicht, falls er gestehe.
Der Arzt und seine Verteidiger, die bisher jede Schuld abgestritten und von "schicksalhaften Verläufen" gesprochen hatten, gingen auf den Deal ein. Was genau in dem privaten 93-Betten-Krankenhaus am Niederrhein geschah, wird sich daher nicht mehr vollständig aufklären lassen. Die Ankläger jedenfalls warfen dem Klinikbetreiber und seinen Ärzten eine Fülle von Fehlern vor, deren Gründe sie in den rigiden Sparanordnungen des Angeklagten sahen. Dieser habe sich so zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen, sagte der Prozessvertreter der Staatsanwaltschaft noch zu Beginn des Prozesses.
Krankenhausökonomie vor Patientengesundheit?
Was die Staatsanwaltschaft noch recht drastisch formulierte, nämlich ökonomisches Profitstreben des Angeklagten, klang am Montag nach dem Deal in der gerichtlichen Presseerklärung deutlich milder. Der Vorwurf, der angeklagte Chefarzt habe aus finanziellen Gründen gehandelt, habe sich in der Hauptverhandlung nicht bestätigt. Die Richter sind vielmehr von einem Problembündel ausgegangen. Der Angeklagte habe sich in seiner Funktion als Inhaber, ärztlicher Direktor und verantwortlicher Chirurg eines in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlichen Krankenhauses in einer andauernden Überforderungssituation befunden, die ihm eine kritische Überprüfung der von ihm getroffenen ärztlichen Maßnahmen unmöglich gemacht habe.
Das Gericht hat dabei zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass er nicht – wie ein normaler Aggressionstäter – habe verletzen, sondern als Arzt habe helfen wollen. Inwieweit normale Aggressionstäter nicht auch häufig aus einer Überforderungssituation heraus handeln, sei hier einmal dahin gestellt. Auch über die Frage, ob sich der Chefarzt wirklich nur aus reiner Nächstenliebe in die ihn überfordernde Klinikleiterfunktion begeben hat, kann nach dem Deal nur spekuliert werden.
Fest stehen dürfte allerdings, dass in der Wegberg-Klinik der wirtschaftliche Spagat zwischen Sparauflagen und ökonomisch Machbaren auf der einen Seite sowie dem medizinisch Wünschenswerten und Erforderlichen auf der anderen Seite gründlich misslang. Auch andernorts fällt dieser Spagat schwer. Ärzte klagen immer häufiger, dass medizinische Entscheidungen massiv von betriebswirtschaftlich denkenden Controllern vorgegeben würden. Das führe zu Operationen, die eigentlich überflüssig seien, aber als lukrativ gleichwohl durchgeführt würden. Hinzu komme eine immer weiter fortschreitende Arbeitsverdichtung: Immer weniger Personal müsse immer mehr Patienten behandeln – und einer immer weiter ausufernden Bürokratie zuarbeiten.
Die "Vielzahl der Behandlungsfehler in einem relativ kurzen Zeitraum", die das Gericht in Mönchengladbach zu Lasten des Angeklagten strafschärfend fest stellte, dürfte daher keine Einzelfall sein und – wenn auch weniger gravierend – auch andere Häuser betreffen.
Keine Abhilfe durch das geplante Patientenrechtegesetz
An diesem Problem wird auch das von der Bundesregierung geplante Patientenrechtegesetz wenig ändern. Dort werden die bereits bestehenden, in verschiedenen Gesetzen verstreuten Vorschriften zum Arzt-Patienten-Verhältnis lediglich in einem Gesetz ordentlich zusammen gefasst.
Weder sieht das Gesetz auf Augenhöhe agierende, spezialisierte Schwerpunktstaatsanwaltschaften für das Gesundheitswesen vor noch gibt es Orientierung dahingehend, was Patienten sich in Zukunft für ihre Gesundheit noch leisten können und wollen. Auch ein verbindlich vorgeschriebenes Risikomanagement fehlt.
Experten fordern ein solches für Krankenhäuser nach dem Vorbild der Luftfahrt. Dort werden Fehler und Beinahe-Fehler schon seit langem systematisch zur Vermeidung von zukünftigen Fehlern und Abstürzen genutzt. Auch in der Medizin können Fehler tödlich sein. Der Wegberger Klinik-Fall hat es bewiesen.
Der Autor Dr. Stefan Rusche ist auf das Medizinrecht spezialisierter Rechtsanwalt und Wissenschaftsjournalist.
Mit Materialien von dpa
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Urteil im Wegberger Klinik-Fall: . In: Legal Tribune Online, 28.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2892 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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