Der Start in den Urlaub kann für Reisende aufgrund der chaotischen Zustände an den Flughäfen zur nervlichen Belastungsprobe werden. Welche Rechte sie haben, wenn Flüge ausfallen, sich verspäten oder der Koffer verschollen ist, erklärt Sebastian Löw.
Während der Sommer naht und einzelne Bundesländer bereits in die Ferien gestartet sind, wird die bundesweite Reiselust durch Schlagzeilen über die aktuellen Zustände an den Flughäfen getrübt. Die von der Coronapandemie massiv getroffene Flugbranche leidet unter einem Personalnotstand, der eine Rückkehr zur Normalität offenbar in weite Ferne rücken lässt. Meldungen von Flugausfällen, Verspätungen und Problemen bei der Gepäckabfertigung häufen sich im Gleichschritt mit steigendem Passagieraufkommen. Doch welche Rechte haben Flugreisende bei derartigen Leistungsstörungen?
Die gängigsten Leistungsstörungen sind in der Verordnung 261/2004/EG geregelt. Diese gelangt zur Anwendung, wenn sich der Abflughafen oder – sofern ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft mit Sitz in der EU den Flug ausführt – der Zielflughafen im Unionsgebiet befindet. Sie gilt also für alle Abflüge aus Deutschland.
Nichtbeförderung, Annullierung, Verspätung
Die Verordnung regelt die Rechte des Reisenden im Fall der Nichtbeförderung, Annullierung und Verspätung. Eine Nichtbeförderung liegt nach Art 2 lit j vor, wenn sich das Luftfahrtunternehmen weigert, einen Fluggast zu befördern, der sich ordnungsgemäß am Flugsteig eingefunden hat, sofern die Beförderungsverweigerung nicht auf vertretbaren Gründen (etwa unzureichende Reiseunterlagen) basiert. Die häufigste Ursache ist eine Überbuchung.
Eine Nichtbeförderung kann im Einzelfall aber auch dann vorliegen, wenn der Reisende seinen Flug aufgrund einer überlangen Wartezeit bei der Gepäckaufgabe (etwa infolge von Personalmangel) versäumt.
Bei Familienreisen wird die Beförderungsverweigerung gegenüber einem Familienmitglied im Regelfall auch als Beförderungsverweigerung der weiteren Familienmitglieder gewertet (siehe LG Frankfurt Urt. v. 09.04.2015; Az. 2-24 S 53/14). Im Anlassfall trat eine vierköpfige Familie mit zwei minderjährigen Kindern ihren Flug nicht an, weil die Fluggesellschaft einem der Kinder – zu Unrecht – die Beförderung verweigerte.
Eine Annullierung liegt gemäß Art 2 lit l vor, wenn ein geplanter Flug, für den zumindest ein Platz reserviert war, nicht durchgeführt (umgangssprachlich "gestrichen") wird; nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aber auch dann, wenn ein Flug um mehr als eine Stunde vorverlegt wird oder eine gestartete Maschine – etwa wegen eines technischen Problems – wieder zum Ausgangsflughafen zurückkehrt.
Der Begriff der Flugverspätung ist im Sekundärrechtsakt dagegen nicht legaldefiniert, vielmehr ist dabei zu differenzieren: Während es für Unterstützungs- und Betreuungsleistungen nach den Art 8 f darauf ankommt, um welchen Zeitraum sich der Abflug verzögert, wird für den Ausgleichsanspruch nach Art 7 – der erst im Zuge der EuGH-Rechtsprechung auf Verspätungen erstreckt wurde – auf den Zeitraum abgestellt, indem das Endziel im Vergleich zur ursprünglich geplanten Ankunftszeit später erreicht wird.
Geld auch ohne konkreten Schaden
Tritt eine der drei genannten Leistungsstörungen ein, können dem Fluggast daraus ein Ausgleichsanspruch (Art 7) und/oder ein Anspruch auf Unterstützungs- (Art 8) sowie Betreuungsleistungen (Art 9) erwachsen.
Im Fall der Nichtbeförderung (Art 4 Abs. 3) sowie der Annullierung (Art 5 Abs. 1 lit c), die von der Fluggesellschaft nicht den Maßgaben von Art 5 Abs. 1 lit c i-iii entsprechend – zwei Wochen im Voraus oder andernfalls unter dem Angebot eines adäquaten Ersatzfluges – kundgetan wurde, kommt dem Reisenden ein Ausgleichsanspruch zu. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gilt dies auch bei Verspätungen von mindesten drei Stunden (u.a. EuGH, Urt. v. 12.03.20 Az. C-832/18).
Zweck des Ausgleichsanspruchs ist die pauschale monetäre Kompensation der entstandenen Unannehmlichkeiten. Weder muss ein konkreter Schaden eingetreten sein noch die Fluggesellschaft ein Verschulden treffen. Lässt sich jedoch eine Annullierung oder Verspätung auf außergewöhnliche Umstände (z.B. schlechte Wetterbedingungen) zurückführen, so entfällt der Ausgleichsanspruch gemäß Art 5 Abs. 3. Personalmangel bei der Fluggesellschaft, etwa aufgrund von vermehrten COVID-19-Infektionen, stellt hingegen keinen derartigen Entlastungsgrund dar, weil dieser Umstand in die Risikosphäre der Fluggesellschaft fällt.
Die Höhe des Ausgleichsanspruch ist in Art 7 Abs. 1 pauschal und gestaffelt festgelegt:
• EUR 250 bei allen Flügen über eine Entfernung von maximal 1.500 Kilometern,
• EUR 400 bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 Kilometern und bei allen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 und 3.500 Kilometern und
• EUR 600 bei allen sonstigen Flügen.
Art 8 räumt dem Fluggast darüber hinaus bei Nichtbeförderung (Art 4 Abs. 3), Annullierung (Art 5 Abs. 1 lit a) sowie im Falle einer Verspätung von mindestens fünf Stunden (Art 6 Abs. 1 lit c iii) Unterstützungsleistungen ein. Der Fluggast kann wahlweise eine vollständige Erstattung der Ticketpreise, einen Rückflug zum ersten Abflugort sowie – bei Nichtbeförderung und Annullierung – eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen verlangen.
Zudem stehen dem "gestrandeten" Fluggast nach Art 9 unentgeltlich, unverzüglich und unaufgefordert Betreuungsleistungen zu. Diese können im jeweiligen Einzelfall aus Mahlzeiten und Erfrischungen (Abs. 1 lit a), einer Hotelunterbringung (Abs. 1 lit b) samt Beförderung zwischen Flughafen und Hotel (Abs. 1 lit c) sowie zwei Kommunikationsmöglichkeiten (Abs. 2) bestehen.
Zu lange dauernde Sicherheitskontrollen
Findet der Flug hingegen ordnungsgemäß statt und verpasst der Fluggast ihn, weil die Sicherheitskontrolle zu lange gedauert hat, lässt sich darauf im Regelfall kein Ersatzanspruch begründen.
Dieses Risiko wird zumeist vom Fluggast – durch zu späte Anreise zum Flughafen – selbst geschaffen. Jeder Reisende muss einen ausreichenden Zeitpuffer für die Sicherheitskontrollen am Flughafen einkalkulieren, da diese von ihm und den Sicherheitsmitarbeitern nicht vollständig beeinflussbaren Betriebsabläufe einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen können (Bundesgerichtshof, Beschl. v.14.12.2017, Az. III ZR 48/17).
Die Empfehlungen aus der Branche lauten daher, sich mindestens zwei Stunden vor Abflug beim Check-In einzufinden; auch von einer Zeitspanne bis zu drei Stunden ist gelegentlich die Rede. Hält der Fluggast diese Empfehlung ein und verpasst den Flug trotzdem, kann dies aber einen Anspruch auf Aufopferungsentschädigung gegenüber der Bundesrepublik begründen, weil für die Organisation und Durchführung der Sicherheitskontrolle gemäß § 4 Bundespolizeigesetz (BPolG) die Bundespolizei zuständig ist. So sprach das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt zwei Frauen Entschädigungen für zusätzliche Tickets und Übernachtungen zu, nachdem sie ihren Fernflug verpassten, obwohl sie sich an die zeitlichen Vorgaben hielten (Urt. v. 27.01.2022, Az. 1 U 220/20).
Reisende, die in einer solchen Situation nicht auf die Dringlichkeit ihrer Kontrolle aufmerksam machen, werden sich allerdings einem Mitverschuldenseinwand aussetzen.
Probleme mit dem Reisegepäck
Kommt zwar der Reisende, nicht aber das am Check-In-Schalter aufgegebene Reisegepäck (ordnungsgemäß) im Zielgebiet an, richten sich Ersatzansprüche in aller Regel nach dem Montrealer Übereinkommen (MÜ). Nach Art 17 Abs. 2 Satz 1 MÜ hat die Fluggesellschaft grundsätzlich jenen Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht.
Nach Art 22 Abs. 2 Halbsatz 1 MÜ haftet die Fluggesellschaft jedoch – sofern sie kein qualifiziertes Verschulden am Schadenseintritt trifft – nur bis zu einem Betrag von 1.288 Sonderziehungsrechten (SZR) pro Fluggast. Dabei handelt es sich um eine – insbesondere aus dem Transportrecht bekannte – künstliche Währung, die vom Internationalen Währungsfonds geschaffen wurde und in Euro umzurechnen ist - der aktuelle Betrag wäre EUR 1.712. Dieser Betrag versteht sich als Obergrenze und steht somit weder automatisch noch pauschal zu (EuGH, Urt. v. 09.07.2020, Az. C-86/19).
Die Höhe des Ersatzanspruchs richtet sich daher im Verlustfall – innerhalb der Grenze von 1.288 SZR – nach dem Wiederbeschaffungswert der im Gepäckstück enthaltenen Gegenstände und ist vom Gericht nach § 287 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu schätzen.
Nach Art 22 Abs. 2 Halbsatz 2 MÜ hat der Fluggast die Möglichkeit bei Aufgabe des Gepäckstücks sein ziffernmäßig bestimmtes Interesse an der Ablieferung am Bestimmungsort unter Entrichtung eines Zuschlags anzugeben (sog Wertdeklaration). Wird davon Gebrauch gemacht, haftet die Fluggesellschaft bis zur Höhe des vom Fluggast angegebenen Betrags, es sei denn, ihr gelingt der Nachweis, dass das tatsächliche Interesse niedriger ist.
Geht das Gepäck zwar nicht verloren, kommt allerdings verspätet im Zielgebiet an, kann der Reisende Schadenersatzansprüche, etwa wegen der Ersatzbeschaffung von Kleidung und Hygieneartikeln, auf Art 19 MÜ stützen.
Sebastian Löw, LL.M (WU) ist Associate bei Dorda Rechtsanwälte in Wien und auf Reiserecht spezialisiert.
Von Flugannullierung bis zum verlorenen Gepäck: . In: Legal Tribune Online, 11.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48953 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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