Recht haben und Recht bekommen sind sprichwörtlich zwei verschiedene Dinge. Für Tiere und Pflanzen gilt das in ähnlicher Weise: Da ein Fisch nicht vor Gericht ziehen kann, müssen das Naturschutzorganisationen übernehmen. Wie weit deren Klagebefugnis geht, entscheidet am Donnerstag der EuGH – mit möglicherweise weitreichenden Folgen für Industrieprojekte. Von Dennis Kümmel.
Der Fall ist schnell geschildert: Ein Zusammenschluss von Stadtwerken will im nordrhein-westfälischen Lünen ein Kohlekraftwerk errichten. In der Umgebung des geplanten Kraftwerks liegen mehrere Naturschutzgebiete, die der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gefährdet sieht. Deshalb klagt er gegen die Genehmigung.
Nach deutschem Recht müsste das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster die Klage eigentlich abweisen. Denn getreu dem Motto "Da könnt‘ ja jeder kommen" darf vor deutschen Verwaltungsgerichten nur klagen, wer in eigenen Rechten verletzt ist.
Zwar gibt es von diesem Grundsatz Ausnahmen, nicht aber im Hinblick auf Kraftwerke. Das OVG will deshalb vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) wissen, ob die deutsche Rechtslage mit dem europäischen Umweltrecht vereinbar ist.
Streit um Vereinbarkeit der "Vormundschaft" mit Europarecht
Für ein deutsches Verwaltungsgericht besteht die Rechtsordnung prinzipiell aus zwei Teilen: Auf der einen Seite stehen Rechtsnormen, die dem Schutz individueller Interessen wie der Gesundheit oder dem Eigentum dienen. Diese Schutznormen verleihen dem Betroffenen eine "Klagebefugnis" und öffnen die Tür zum Verwaltungsgericht. Der Nachbar kann daher gegen ein Kraftwerk klagen, wenn es die Grenzwerte für Luftschadstoffe auf seinem Grundstück überschreitet.
Auf der anderen Seite stehen die übrigen Gesetze, die nicht individuellen Interessen, sondern dem Allgemeinwohl dienen. Diese ermöglichen prinzipiell keine Klagen. Der Nachbar kann sich deshalb nicht dagegen wehren, dass das Kraftwerk in einem Naturschutzgebiet errichtet wird: Das Naturschutzrecht ist auf das Allgemeinwohl ausgerichtet und nicht auf den Schutz von Anwohnern.
Da die geschützte Natur nicht selbst vor Gericht ziehen kann, gibt es im Umweltrecht die Möglichkeit einer so genannten Verbandsklage. Das Bundes-Naturschutzgesetz (BNatSchG) sieht Umweltverbände als "Vormund der Natur" und ermöglicht Klagen gegen große Projekte wie Autobahnen und Hochspannungstrassen – aber nicht gegen Kraftwerke. Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) aus dem Jahr 2006 machte die Verbände außerdem zum "Vormund der Betroffenen" und ermöglicht Klagen gegen den Verstoß von Schutznormen, auch wenn sich die betroffenen Nachbarn nicht wehren.
Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum UmwRG war umstritten, ob diese enge, auf Schutznormen beschränkte Klagebefugnis mit der europäischen Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung vereinbar ist. Umweltschützer forderten eine umfassende Klagebefugnis bei jedem Verstoß gegen Umweltrecht. Wirtschaftsvertreter warnten hingegen vor negativen Auswirkungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland, wenn der Bau von Kraftwerken und anderen Projekten durch Gerichtsverfahren verzögert und verteuert wird.
In einem im Auftrag des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft erstellten Gutachten kam der Europarechtler und heutige EuGH-Richter Thomas von Danwitz zu dem Ergebnis, dass ein auf Schutznormen begrenztes Klagerecht im Einklang mit dem Europarecht steht. Mit diesem Inhalt wurde das Gesetz dann auch beschlossen.
Fachkunde der Umweltverbände Garant für rechtssichere Genehmigungen
Die Klage des BUND verdeutlicht nun die Lücke zwischen dem BNatSchG und UmwRG: Einerseits ermöglicht das BNatSchG keine Klagen gegen Kraftwerke. Andererseits dient das Naturschutzrecht nicht dem Schutz von Betroffenen sondern dem Allgemeinwohl, weshalb auch keine Klagemöglichkeit nach dem UmwRG besteht.
Deshalb muss nun der EuGH entscheiden, ob diese Lücke mit dem Europarecht vereinbar ist. Die Bundesregierung verteidigte in einer Stellungnahme die deutsche Lösung mit einem Verweis auf die begrenzten Ressourcen der Verwaltungsgerichte. Eine Zunahme von Klagen würde das Gerichtssystem überfordern und somit zu einer Minderung des Rechtsschutzes führen.
Dem widersprach Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen: Mit einer einzelnen Klage eines Umweltverbandes könne eine Vielzahl von Klagen ersetzt und damit die Zahl gerichtlicher Verfahren reduziert werden. Im Übrigen verlange das Europarecht eine wirksame Prüfung der Umweltauswirkungen eines Vorhabens durch die Umweltverbände. Damit stehe das deutsche Recht nicht im Einklang.
Sollte sich der EuGH der Auffassung der Generalanwältin anschließen und das Klagerecht der Umweltverbände in Deutschland ausweiten, ist der Aufschrei der Wirtschaftsvertreter absehbar. Diese Reaktion ist verständlich, wenn man sich ansieht, welchen zeitlichen und inhaltlichen Umfang Genehmigungsverfahren bereits heute erreicht haben.
Auf der anderen Seite muss man anerkennen, dass Umweltverbände dazu beitragen, dass die geltenden Umweltgesetze tatsächlich angewendet werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Studie der Hochschule Anhalt zur naturschutzrechtlichen Verbandsklage. Demnach liegt die Erfolgsquote von Verbandsklagen mit etwa 40 Prozent deutlich höher als bei sonstigen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten (rund 10 Prozent). Dies lässt auf eine beachtliche Fachkunde der Umweltverbände schließen. Anlagenbetreiber und Genehmigungsbehörden sollten daher erwägen, diese Fachkunde zu nutzen und somit zu rechtssicheren Genehmigungen zu kommen.
Dennis Kümmel ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Verwaltungsrecht bei FPS Rechtsanwälte & Notare in Frankfurt am Main.
Mehr auf LTO.de:
Gesetzgebung: Kabinett verabschiedet Gesetzentwurf zur CO2-Speicherung
Bürgerbeteiligung bei Probebohrungen: NRW auf dem Weg zu "Erdgas 21"?
Atompolitik in Deutschland: "Kein Jurist teilt die Position der Regierung"
Umweltverbände vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3247 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag