Die Energiewende ist beschlossen, aber an der Umsetzung hapert es. Ein Bremsklotz beim Ausbau erneuerbarer Energien ist paradoxerweise das Umweltrecht selbst: Windenergie- und Wasserkraftanlagen scheitern nicht selten an den strengen Vorgaben von Gewässer-, Habitat- und Artenschutz. Dabei stehen Ausnahmeklauseln zur Verfügung, meint Thorsten Attendorn - man müsste sie nur nutzen.
"Deutschland startet so schnell wie möglich ins Zeitalter der erneuerbaren Energien – ohne Wenn und Aber." Mit diesen Worten leitete die Bundesregierung die Energiewende ein: Der Atomausstieg bewirkte, wie es ein großes Finanzblatt schrieb, den "staatlich verordneten Technologiewechsel" zur hauptsächlich regenerativen Energieerzeugung.
Soll die Wende tatsächlich gelingen, ist vielerlei notwendig. Nicht zuletzt müssen deutlich mehr Wind- und Wasserkraftanlagen zugelassen und gebaut werden, und zwar in deutlich kürzerer Zeit. Gegenwärtig erlebt man allerdings die in der Industriegeschichte größte Renaissance der besonders CO²-schädlichen Kohlenutzung.
Fragt man nach den Gründen, so wird neben dem fehlenden oder als unzureichend betrachteten Gesamtkonzept für die Energiewende auch auf die Investitionsbedingungen, deren Finanzierung, Planbarkeit und Sicherheit hingewiesen. Kein bloßes Lobbyisten-Gelärme scheint es zu sein, wenn beanstandet wird, dass die zuständigen Behörden die umweltrechtlichen Regelungen des Gewässer- und Naturschutzes so auslegen, dass eine zügige Zulassung von Anlagen zur regenerativen Energieerzeugung nicht möglich ist, im Einzelfall sogar ganz verhindert wird.
"Ökologischer Binnenkonflikt"
In der Tat spitzt sich durch die Energiewende ein schon vorher vorhandener "ökologischer Binnenkonflikt" zu: Wasser- und Naturschutzrecht dienen dem Schutz der Gewässerökologie, der bedrohten Arten und geschützter Lebensräume (Habitate). Der nationale und europäische Gesetzgeber hat diese Schutzziele über die Jahrzehnte mit Hilfe der zuständigen Behörden vor allem gegen große Infrastruktur- und Industrieprojekte in Stellung gebracht. Die Schutzvorschriften wurden, auch auf EU-Initiative hin, immer strenger gestaltet, ausgefeilt und verfeinert.
Auf dieses Schutzregime stößt nun die Energiewende. Die Investoren, deren Windenergieanlagen und Wasserkraftwerke nicht nur dem eigenen Profit, sondern mittelbar auch dem Klimaschutz dienen, kollidieren im wahrsten Sinne des Wortes mit Rotmilan und Fledermaus, Aal und Co. Ihren Bauvorhaben stehen der Habitat- und Artenschutz und die Belange von Gewässerdurchgängigkeit und Mindestwasserführung entgegen. Diesen Konflikt zwischen verschiedenen Umweltschutzgütern hat der Gesetzgeber nicht konkret gelöst. Er hat aber die Instrumente zur Lösung bereitgestellt.
Denn der Klimaschutz ist ein hochrangiges Verfassungsziel. Art. 20a Grundgesetz (GG) verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland zum Schutz der Lebensgrundlagen und zur Nachhaltigkeit. Dies sind nicht nur Arten, Gewässer und Habitate, sondern auch das Klima – und das nicht zuletzt deshalb, weil sich im Falle der Klimakatastrophe jeder andere Umweltschutz erübrigt. Gesetzgeber und Behörden müssen den Klimaschutz deshalb ernst nehmen, sonst handeln sie verfassungswidrig.
Nicht eindimensional auf den Umweltschutz schauen
Auch der europäische Unionsvertrag nennt nicht nur Umweltschutz und Nachhaltigkeit als Ziel, sondern verpflichtet die Mitgliedsstaaten ausdrücklich auch zum Klimaschutz und zur Förderung erneuerbarer Energien.
Der deutsche Gesetzgeber ist der Verpflichtung in Teilen bereits nachgekommen: Aus dem Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) und dem Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) folgt eine Verpflichtung, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung zu erhöhen.
Auch das Wasser- und Naturschutzrecht wurde durch Zielvorschriften angereichert, nach denen nicht eindimensional auf die ökologischen Erhaltungsziele geschaut werden darf. Der Klimaschutz und die regenerative Energieerzeugung müssen ebenfalls beachtet und gefördert werden. Das heißt zum Beispiel, dass Gewässer nicht nur als Lebensraum und Trink- und Nutzwasserreservoir, sondern auch als Ressource für die regenerative Energieerzeugung dienen müssen. Und das seit der Energiewende in stärkerem Maße als bislang.
Klimaschutz dient dem Gemeinwohl
Sowohl das Wasserrecht als auch das Naturschutzrecht sind zunächst einmal aber strikt ausgestaltet: Es gilt beispielsweise der bindende Bewirtschaftungsgrundsatz, dass die Durchgängigkeit der Gewässer gewährleistet werden muss. Ein Wasserkraftwerk mit Staustufen kommt deshalb nicht in Frage, allenfalls sind Fischtreppen zu installieren. Ebenso wenig darf eine Windenergieanlage gebaut werden, wenn sie durch ihre Rotoren das Tötungsrisiko für Arten wie Rotmilan oder Fledermaus erhöht. Da diese Vorschriften nur einen geringen oder sogar keinerlei Handlungsspielraum bieten, hat der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen geschaffen.
Im Wasserrecht ermöglicht es zum Beispiel § 31 Abs. 2 Wasserhaushaltsgesetz (WHG), von den Bewirtschaftungsgrundsätzen abzuweichen, wenn "Gründe von übergeordnetem öffentlichen Interesse" vorliegen und es keine umweltschonenderen Alternativen gibt. Die Energieerzeugung an sich ist schon ein solcher Grund. Umso mehr hat die dem Klimaschutz dienende Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien einen herausgehobenen Gemeinwohlbezug. Das ist nach der Energiewende in besonderem Maße zu berücksichtigen: Jede einzelne Gewässerbenutzung für ein Wasserkraftwerk trägt dazu bei, den möglichen Folgen des Klimawandels vorzubeugen.
Welches Gewicht der Klimaschutz in der konkreten Abwägung gegenüber den jeweils betroffenen ökologischen Erhaltungszielen hat, ist freilich im Einzelfall zu entscheiden. Die Suche nach Alternativen muss sich aber auf andere Wasserkraftprojekte beschränken und nicht andere alternative Energieformen wie Windkraft- oder Biomasse in den Blick nehmen. Schließlich darf die Alternative für den Vorhabenträger keinen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten.
Ausnahmen zur Regel machen
Im Naturschutzrecht ist es ähnlich. Nach Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) kann eine Ausnahme von den naturschutzrechtlichen Verboten zugelassen werden, wenn das aus "zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses" nötig ist. Der strenge Wortlaut "zwingend" verlangt lediglich ein "durch Vernunft und Verantwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln", wie es die Energiewende darstellt.
Maßnahmen gegen den globalen Klimawandel, insbesondere der Ausbau regenerativer Energieerzeugung, sind von legitimen und gewichtigen öffentlichen Interessen getragen, denen wegen ihrer Langfristigkeit besondere Bedeutung zukommt. Die EU-rechtlichen Bestimmungen nennen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die "Förderung der allgemeinen Ziele der langfristigen Energiepolitik eines Landes". Gerade darum handelt es sich beim Ausbau der regenerativen Energieerzeugung nach Fukushima, Atomausstieg und Energiewende.
Ob sich die Klimaschutzbelange dann im Einzelfall tatsächlich gegen die ökologischen Erhaltungsbelange durchsetzen, bleibt immer eine Einzelfallabwägung. Insofern verursacht die Durchführung von Ausnahmeverfahren Mehraufwand und birgt – überschaubare – rechtliche Risiken. Über die Ausnahmeregelungen ist es aber in geeigneten Fällen heute schon möglich, in das "Zeitalter der erneuerbaren Energien" zu starten. Dies setzt voraus, dass die zuständigen Behörden ihre Handlungsspielräume ernst nehmen und Verantwortung für das Gelingen der Generationenaufgabe "Energiewende" übernehmen.
Der Autor Prof. Dr. Thorsten Attendorn lehrt und forscht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes NRW und ist Gründungsmitglied der dortigen Forschungsgruppe Umweltrecht. Er war jahrelang als Rechtsanwalt und sodann für die obere Bergbau- und Energiebehörde NRW tätig.
Umweltschutz bremst die Energiewende: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6574 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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