Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland: "Die klas­si­sche Neu­tra­lität kann es nicht geben"

Interview von Dr. Franziska Kring

02.04.2022

Fünf Wochen nach Kriegsbeginn laufen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Die Ukraine verlangt Sicherheitsgarantien, Russland fordert die ständige Neutralität der Ukraine. Stefan Oeter erklärt im Interview, was das bedeutet.  

Während die Kämpfe in der Ukraine anhalten, verhandeln Delegationen Russlands und der Ukraine über die Zukunft der Ukraine. Konkrete Ergebnisse der Gespräche sieht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi jedoch noch nicht.

Russland fordert, dass die Ukraine ein neutraler Staat wird, möglichst weitgehend demilitarisiert, die Ukraine möchte im Gegenzug Sicherheitsgarantien von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates wie den USA, Frankreich, Großbritannien, China oder eben Russland. Auch Länder wie die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel könnten Sicherheitsgaranten werden. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat am Mittwoch angekündigt, Deutschland stehe für Sicherheitsgarantien bereit. Aber wie realistisch ist es, dass die Ukraine neutral wird? Und wie lässt sich "Neutralität" eigentlich vereinbaren? 
 

LTO: Die ukrainische Bevölkerung befindet sich mehrheitlich im Widerstandsmodus und verteidigt sich gegen den russischen Angriff – wie kann man sich vorstellen, dass das Land bald neutral sein soll? 

Prof. Dr. Stefan Oeter: Dies könnte nur als Teil eines Friedensabkommens vereinbart werden, das notwendig mit einem Ende der Aggression verbunden sein müsste, also einem Ruhen der Waffen. Ob ein Status der "dauernden Neutralität" Teil eines solchen Friedensabkommens sein soll, ist gerade zentraler Gegenstand der laufenden Verhandlungen. 

Prof. Dr. Oeter Foto: Privat
 

LTO: Was bedeutet eigentlich völkerrechtliche Neutralität? 

Neutralität bedeutet in der Geschichte des Völkerrechts, dass Drittstaaten die Kriegsparteien nicht unterstützen dürfen. Wer trotzdem unterstützt, verstößt gegen die Regeln der Neutralität und darf von der "verletzten" Seite bekämpft und sanktioniert werden. 

Unter der UN-Charta stellt sich aber die Frage, ob Staaten überhaupt noch neutral sein können. Die Frage nach der Neutralität wird stark durch das System der kollektiven Sicherheit überlagert, wie die Situation in der Ukraine deutlich zeigt: Können Drittstaaten neutral sein, wenn wir einen "Aggressor" und ein "Aggressionsopfer" haben? Meiner Ansicht nach kann es im Fall der Ukraine die klassische Neutralität nicht geben, denn das Prinzip der kollektiven Sicherheit gebietet es eigentlich, dem Aggressionsopfer zur Seite zu stehen – nur durch derartige Solidarität der Staatengemeinschaft kann die verletzte Norm des Gewaltverbots in Geltung gehalten werden. 

Wie können Staaten ihre Neutralität erklären? 

Hier muss man differenzieren. Die "klassische" Neutralität als Status für die Dritten, die nicht am Krieg teilnehmen, muss nicht gesondert erklärt werden. Anders ist es beim Dauerstatus der permanenten Neutralität. Dieser kann entweder durch völkerrechtlichen Vertrag begründet werden, wie beispielsweise im österreichischen Staatsvertrag von 1955. Österreich hat damit seine permanente Neutralität im Gegenzug für die Aufhebung des Besatzungsregimes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erklärt. Permanente Neutralität kann aber auch durch einseitige Akte erklärt werden, so sind etwa Finnland und die Schweiz vorgegangen. 

"Völkerrechtlich formalisierter Verzicht auf den Nato-Beitritt" 

Welche konkreten Folgen hätte es für die Ukraine, wenn sie sich zur Neutralität verpflichtet? 

Wenn die Ukraine ihre permanente Neutralität erklärt, dürfte sie sich keinem Bündnis anschließen. Ein Nato-Beitritt, den die Ukraine schon lange erwägt, wäre dann vom Tisch. Genau das ist die Pointe: Ein entsprechendes Zugeständnis wäre ein völkerrechtlich formalisierter Verzicht auf den Nato-Beitritt. 

Für wie wahrscheinlich halten Sie eine solche Erklärung der Ukraine? 

Schon vor dem Angriffskrieg gab es Diskussionen, ob die Ukraine in der prekären Lage zwischen Russland und der Nato einen ähnlichen Weg wie Finnland wählt: Der Staat hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst für die Neutralität entschieden, um sich mit seinem großen Nachbarn, der Sowjetunion, gut zu stellen. Finnland hatte eine sehr lange Grenze mit der Sowjetunion und wollte diese nicht zu einer spannungsgeladenen Frontlinie zwischen NATO und Warschauer Pakt werden lassen.

Geopolitisch wäre eine entsprechende Erklärung der Ukraine sicherlich sinnvoll – andererseits beinhaltet Neutralität auch die Garantie, dass andere Staaten die Souveränität und territoriale Integrität des neutralen Staates achten. Und das ist genau der Punkt: Kann sich die Ukraine nach Russlands Verhalten der vergangenen Jahre und insbesondere Wochen noch auf Zusagen von russischer Seite verlassen?  

Haben Sie den Eindruck, dass Russland und die Ukraine das gleiche Verständnis von "Neutralität" haben? 

Das Institut der Neutralität gibt es schon lange, die Schweiz praktiziert dies seit Jahrhunderten. Die Neutralität hat klare Konturen. Von daher gehe ich davon aus, dass die Expertinnen und Experten im russischen Außenministerium das gleiche Verständnis von Neutralität wie wir haben. Allerdings weiß man nicht, welches Verständnis die politische Führung um den Präsidenten Putin an den Tag legt – diese scheint sich in der Isolation ihr ganz eigenes Völkerrecht zu basteln.  

"In der derzeitigen Situation kann keine Einigung über die Krim erfolgen" 

Wie könnte ein entsprechender Vertrag ausgestaltet sein, in dem die Ukraine sich zur Neutralität verpflichtet? 

Als Blaupause kann der Staatsvertrag mit Österreich verwendet werden. Dieser Vertrag trifft noch viele zusätzliche Regelungen, aber die Grundzüge sind vergleichbar: Der betroffene Staat erklärt seine permanente Neutralität und dafür geben die anderen Vertragsparteien eine Garantieerklärung für die Integrität und Souveränität des betroffenen Staates ab.

Eine solche Vereinbarung schwebt auch Selenskyj vor: Er möchte möglichst viele Garantiemächte an dem Vertrag beteiligen, um dem Vertrag das entsprechende internationale Gewicht zu geben. Der aktuelle Krieg zeigt allerdings, dass er weniger militärische als politische Unterstützung erwarten kann. Also wird er für eine Beteiligung wahrscheinlich eher solche Staaten gewinnen können, die für eine ernsthafte militärische Unterstützung sowieso nicht in Frage kommen. 

Welche sonstigen Regelungen könnte ein "Friedensvertrag" beinhalten – und welche nicht? 

Ich denke, ein möglicher Friedensvertrag wird nicht wesentlich über die Kernpunkte beider Parteien hinausgehen: Russland möchte den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern – und die Ukraine verlangt Sicherheitsgarantien. 
Schon jetzt steht fest, dass der Status der Halbinsel Krim ausgeklammert werden wird: Die Ukraine hat vorgeschlagen, das Thema als Sonderthema in spätere Verhandlungen aufzunehmen. Dies halte ich auch für vernünftig, denn in der derzeitigen Situation kann keine Einigung über den Status der Krim erzielt werden. Ähnlich werden die Parteien mit den Regionen Donezk und Luhansk verfahren. 

"Krude Negierung des Selbstbestimmungsrechts" 

Wie sieht die Ausgangslage beider Parteien vor einem möglichen Friedensvertrag aus?  

Die Standpunkte könnten unterschiedlicher nicht sein. Die völkerrechtliche Situation der Ukraine ist eindeutig: Sämtliche russischen Gewaltakte haben den Status dieser Gebiete nicht verändern können. Sowohl die Krim als auch Donezk und Luhansk sind völkerrechtlich weiterhin Teil der Ukraine. In der Wiener Vertragsrechtskonvention gibt es einen speziellen Nichtigkeitstatbestand für Verträge, die unter Zwang oder Gewalt herbeigeführt werden. Jeder Verzicht, den die Ukraine jetzt abgeben würde, wäre von vornherein nichtig. Insofern wären Verfügungen über spezielle Gebietsteile schon aus diesem Grund nicht sinnvoll. 

Und die russische Seite? 

Die russische Position ist konträr. Die Krim ist – so die Moskauer Sicht – der russischen Föderation beigetreten und untrennbarer Bestandteil Russlands. Seit der Änderung der russischen Verfassung sind sämtliche Abtretungen und Abspaltungen von Russlands Territorium verfassungswidrig. 

Zwischen diesen gegensätzlichen juristischen Positionen gibt es derzeit keinerlei Spielraum. Russland sieht Donezk und Luhansk als befreundete "Volksrepubliken", zu deren "Sicherung" Russland gerade den Krieg führt. Der Kreml würde jetzt also nicht ohne weiteres Donezk und Luhansk aufgeben, das würde im Widerspruch zur gesamten Kriegspropaganda stehen. 

Selenskyj versucht im Grunde, Putin an seiner Rhetorik festzuhalten, dass die NATO-Erweiterung der Stein des Anstoßes war. Allerdings ist klar, dass das nur ein Vorwand ist und der russische Präsident die Eigenständigkeit der Ukraine als Nationalstaat beseitigen möchte. Er erkennt die Ukraine als Staat nicht an, sondern sieht die Ukrainerinnen und Ukrainer im Kern als unerlöste Russen mit falschem Bewusstsein, denen mit Gewalt wieder das richtige Bewusstsein beigebracht werden muss. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen das Gewaltverbot, sondern eine krude Negierung des Selbstbestimmungsrechts.  

"Wenig Spielraum für Kompromisse" 

Was erwarten Sie von den weiteren Verhandlungen?  

Ich bin skeptisch, dass die Verhandlungen bald zu konkreten Ergebnissen führen. Ich sehe wenig Spielraum für Kompromisse. Auch Putins bisherige Reaktionen auf Angebote lassen keinerlei Kompromissbereitschaft erkennen. Und strategisch ist auch nicht zu erwarten, dass Russland entscheidend von seinen ursprünglichen Zielen abrückt. Die Besetzung des gesamten Staatsgebiets der Ukraine und der Austausch der Regierung in Kiew sind zwar gescheitert.  

Aber jetzt hat Russland sich die "Befreiung" des Donbass auf die Fahnen geschrieben – mit viel weniger wird Russland sich nicht zufriedengeben, wenn die Kreml-Führung nicht völlig ihr Gesicht verlieren soll. Das wird aber eine territoriale Expansion der russisch beherrschten Gebiete im Osten der Ukraine erfordern – und dafür bedarf es erfolgreicher Operationen der russischen Seite, um die ukrainischen Streitkräfte aus dem Osten des Landes zu vertreiben. Es wird also noch viel Blut fließen und Zerstörungen geben, selbst wenn die Kampfhandlungen sich im weiteren Verlauf stark auf den Osten konzentrieren werden.  

Können Sie sich eine andere Lösung des Konflikts vorstellen? 

Mir erscheint derzeit am wahrscheinlichsten, dass die Situation in eine Art "Zermürbungskrieg" mündet und Russland die erreichbaren Städte zerstört. An der Frontlinie zu den umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk steht noch ein Großteil der regulären ukrainischen Armee. Russland wird versuchen, diese Front und die dort gebundenen Kernteile der regulären ukrainischen Armee zu zerschlagen. Insofern glaube ich nicht, dass es bald eine echte Waffenruhe geben wird. Diese wird es erst geben, wenn Russland vollständig mit seinen militärischen Zielen gescheitert ist – oder diese erreicht hat. 

Was kann das Völkerrecht in dieser Situation noch ausrichten? 

Im Moment sind es die Staaten des Westens, aber auch große Teile des globalen Südens, als die zentralen Akteure des Völkerrechts, die verdeutlicht haben und immer weiter verdeutlichen müssen, dass hier eine rote Linie überschritten worden ist und grundlegende Normen der UN-Charta verletzt sind. Der Westen muss so viele Sanktionen wie möglich verhängen, um Russland auch ökonomisch zu zeigen, dass das Verhalten inakzeptabel ist – und dass man mit einer solchen zynischen Politik der Leugnung fundamentaler Regeln scheitern wird. Das Recht als solches kann hier erst einmal nicht viel ausrichten, aber man muss die Aggression derart durchkreuzen, dass klar wird: Das ist kein Modell zum Nachahmen. 
 
Prof. Dr. Stefan Oeter ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und ausländisches Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. 
 

Einleitung mit Materialien von dpa

Zitiervorschlag

Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48015 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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