Nach 20 Jahren könnte der ewige Präsident abgewählt werden – aber was dann? Was für eine Justiz sein Herausforderer erben würde und warum der sogar noch stärker auf die Machtfülle von Erdogans Verfassungsumbau angewiesen sein könnte.
Am Sonntag könnte die Ära von Recep Tayyip Erdogan an der Spitze der Türkei enden. Opposition und Regierung bezeichnen die Abstimmung am Sonntag als "Schicksalswahl", sie ist richtungsweisend für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Land.
Erdogan ist der einflussreichste Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, doch seine Macht bröckelt. Ob Erdogan die Türkei nach 20 Jahren an der Macht in die Zukunft führen kann, daran gibt es zunehmend Zweifel. Das Land leidet unter einer Währungskrise, die Justiz gilt als politisiert, die Institutionen als ausgehöhlt. Nach dem Erdbeben im Februar mit Zehntausenden Toten wurde Erdogan Versagen im Krisenmanagement vorgeworfen.
Rückkehr auf demokratischen Weg oder Abgleiten in Autokratie?
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, und nicht Erdogan, geht am Sonntag als Favorit ins Rennen. Die Abstimmung für das Parlament und den Präsidenten findet gleichzeitig statt. Um die Wahl gleich in der ersten Runde zu entscheiden, braucht ein Präsidentschaftskandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen. Gelingt das nicht, kommt es am 28. Mai zur Stichwahl.
Laut dem Umfrageinstitut Metropoll liegt Erdogan bei 44 Prozent und sein Herausforderer Kilicdaroglu bei 46 Prozent, andere Institute sehen mal Erdogan ein paar Prozent weiter vorne, mal Kilicdaroglu. Der Oppositionsführer tritt für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Versammelt sind da die größte Oppositionspartei CHP, die nationalkonservative Iyi-Partei und weitere. CHP-Mann Kilicdaroglu will das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie führen. Deshalb sprechen viele auch von einer "Schicksalswahl" für die Türkei. Als sei das nicht schon genug Dramatik, findet die Wahl ausgerechnet 100 Jahre nach der Gründung der Republik statt.
Erdogan, der als einer der einflussreichsten Politiker seit Republikgründer und "Übervater" Atatürk gilt, wurde 2003 Ministerpräsident und 2014 Staatspräsident. Durch eine Verfassungsänderung hat er seit fünf Jahren weitreichende Vollmachten. Sollte der 69-Jährige erneut an die Macht kommen, werde das Land weiter in die Autokratie abgleiten, befürchten manche in der Türkei. "Die vielleicht letzte Chance, die Türkei wieder auf einen demokratischen Weg zu bringen, wäre vertan", schreibt der Taz-Journalist und Türkeikenner Jürgen Gottschlich.
Wie frei ist die Wahl?
Mit Blick auf die anstehenden Wahlen hat Erdogan Vorbereitungen getroffen. 2022 wurde eine Wahlrechtsreform verabschiedet. Die hohe Hürde von zehn Prozent bei der Parlamentswahl wurde auf sieben Prozent herabgesetzt. Lange Zeit diente sie dazu kleinere Parteien, insbesondere kurdische, vom Einzug in das Parlament abzuhalten. Nun soll sie aber der rechtsradikalen MHP den Weg ins Parlament sichern, mit der Erdogans AKP schon derzeit ein Bündnis bildet, um die eigene Mehrheit zu behalten.
Die Stimmabgabe in den Wahllokalen am Sonntag wird von Parteivertretern beobachtet: Kilicdaroglu kündigte in einem Gespräch mit dem Spiegel an, man werde an jeder Urne Beobachter haben, mehr als 200.000 Leute insgesamt, Anwälte und Juristen in jedem Wahllokal. Während die Abdeckung in den Metropolen gelingen dürfte, wird es in ländlicheren Gebieten vor allem im Osten der Türkei schwieriger. Die Opposition befürchtet auch, dass nach der Wahl noch Wahlurnen ausgetauscht und Stimmen manipuliert werden könnten.
Amtlich wacht der "Hohe Wahlausschuss" über die Wahl. Besetzt ist er mit hauptamtlichen Richtern, unabhängig arbeiten können diese aber offenbar nicht. Der Ausschuss spielte bereits 2019 eine unrühmliche Rolle. Nachdem die AKP in Istanbul die Kommunalwahl verloren hatte, ordnete der Hohe Wahlausschuss auf Druck Erdogans eine Wiederholung der Wahl an. Die Rechnung ging aber nicht auf. Die AKP verlor die Wahl mit noch größerem Abstand als in der ersten Runde. Die Wählerinnen und Wähler gaben ihr die Quittung für dieses Manöver.
Ist ein neuer Präsident noch stärker auf Machtfülle durch Verfassungsänderung angewiesen als Erdogan?
Ein Stimmungsbarometer in der Türkei ist die Zwiebel. Der Preis für ein Kilo hat sich in der Hauptstadt Ankara in den letzten anderthalb Jahren laut Financial Times verfünffacht. Der Herausforderer Kilicdaroglu hält nicht zufällig in einem seiner Youtube-Videobotschaften eine Zwiebel in die Kamera, aufgenommen in seiner Küche. Sie ist ein Grundnahrungsmittel gerade vieler ärmerer Familien in der Türkei. Die Wirtschaftskrise der Türkei erreicht so die alltäglichsten Bedürfnisse der Menschen. Aber auch weiter weg vom Alltag der Menschen steht bei der Wahl viel auf dem Spiel.
Das Oppositionsbündnis hat angekündigt, es wolle das Präsidialsystem rückabwickeln. Mit seiner Einführung war die Macht des Parlaments geschwächt und die des Präsidenten gestärkt worden. Soll das nun rückgängig gemacht werden, müsste die Verfassung geändert werden, wofür es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament braucht. "Eine erneute Verfassungsänderung wird schwierig, weil die Mehrheiten kaum ausreichen dürften, sollte die Opposition gewinnen, sagt Christian Rumpf, Rechtsanwalt in Stuttgart, spezialisiert auf die Türkei und Honorarprofessor für Türkisches Recht der Uni Bamberg. "Die derzeitige Opposition als 'Mehrheit' wäre ohnehin äußerst labil." Denn geeint sei sie gegen Erdogan, aber bei weitem nicht in ihren politischen Zielen. Kilicdaroglu werde also, sollte er Präsident werden, sich nicht auf eine stabile Mehrheit im Parlament stützen können. "Er würde sogar noch mehr auf das dem Präsidenten durch die Verfassungsänderung 2017 eingeräumte Machtgefüge angewiesen sein als Erdogan, der mit seiner starken politischen Willenskraft massiven Einfluss auf 'seine' Partei hat", meint Rumpf, der auch das EU-Parlament und den Bundestag zur Türkei beriet.
Was für ein Land, was für eine Justiz würde ein neuer Präsident erben?
Erdogan hinterlässt ein Land, einen Staatsapparat, eine Verwaltung und Justiz, die er und seine islamisch-konservative Partei AKP zwei Jahrzehnte lang geprägt haben. In welcher Verfassung sind Justiz und Anwaltschaft?
"Viele Probleme der Justiz sind nicht wirklich neu, sondern allenfalls unter der AKP-Regierung stärker hervorgetreten", ordnet Rumpf ein. Lange Verfahren, Mängel in der Entscheidungsqualität. Ein Einschnitt sei der Putschversuch 2016 gewesen, für den Erdogan die islamische Sekte um den Prediger Fethullah Gülen verantwortlich macht. In Folge des gescheiterten Staatsstreich wurden tausende Richter und Staatsanwälte aus der Justiz entlassen, zum Teil inhaftiert, entweder weil sie Gülen-Anhänger waren oder auch nur aus Anlass entfernt wurden.
Um die Posten wieder aufzufüllen, seien viele junge und unerfahrene Juristen in die Justiz gelangt. Vor allem auch in die Strafjustiz. "Die Strafrichterschaften sind in erster Linie für Haftsachen zuständig und gelten der Opposition und vielen Praktikern als Vollzugsstellen des politischen Willens des Präsidenten und seiner politischen Freunde", so Rumpf. "Tatsächlich sind aus diesen Gerichten geradezu unterirdische, grob rechts- und verfassungswidrige Haftbefehle hervorgegangen." Viele wurden vom Verfassungsgericht aufgehoben.
"Das Verfassungsgericht ist auch unter Erdoğan seinen Rechtsprechungslinien treu geblieben", so Rumpf. "Sollte Erdoğan gewinnen, sehe ich das Verfassungsgericht ernsthaft in Gefahr." Dazu müsste allerdings eine Verfassungsänderung durchgesetzt werden. Für allzu wahrscheinlich hält Rumpf das aber nicht, er vertraut auf einen "Restbestand an intellektueller Kraft in der politischen Spitze der AKP und im Umfeld des Präsidenten, der sich gegen solche Pläne stemmen könnte."
Hoffnung, die mit einem Wechsel verbunden ist, konzentriert sich für Rumpf auf neue Impulse von der Staatsspitze, mehr Gefühl für die Erfordernisse eines demokratischen Rechtsstaats, eine Rückkehr zu wahrer Pressefreiheit und eine Wiederbesinnung der Justiz auf ihre eigenen Grundsätze, nämlich innere und äußere Unabhängigkeit von der politischen Spitze oder politischen Parteimehrheiten.
Steht zu befürchten, dass Erdogan das Wahlergebnis nicht akzeptiert?
Auch international wird die Abstimmung aufmerksam beobachtet. Die Türkei ist längst wichtige Regionalmacht und hat eine Stimme in zahlreichen gegenwärtigen Konflikten. Sie ist Nato-Mitglied, EU-Beitrittskandidat und beherbergt Millionen geflüchtete Menschen aus Syrien. Im Ukraine-Krieg unterhält sie sowohl zu Kiew als auch zu Moskau gute Beziehungen, exportiert Drohnen aus Fabriken von Erdogans Schwiegersohn.
Was nach Sonntagabend in der Türkei passieren wird, scheint vielen Beobachtern und selbst Insidern aus der Türkei kaum absehbar. Sorgen bereitet den Menschen, dass der amtierende Innenminister sogar von einem möglichen Putsch am Wahltag polterte. Erdogans ultranationalistischer Verbündeter Devlet Bahceli drohte dem Oppositionsbündnis vor Kurzem unverhohlen mit "entweder
lebenslangen Haftstrafen oder Kugeln in ihre Körper". Sollte die Opposition nur knapp gewinnen, könnte drohen, dass Erdogan das Ergebnis nicht akzeptiert. Auch Türkeiexperte Rumpf verfolgt derzeit die einschlägigen sozialen Medien und stellt ein erhebliches Gewaltpotenzial in der rechten Ecke rund um AKP und MHP fest.
Unabhängig davon, wie die Wahl am Sonntag ausgeht, sie wird sicher noch einmal sichtbar machen, wie gespalten und polarisiert die Türkei nach 20 Jahren Erdogan ist. Die größte Aufgabe für die nächsten Jahre wird es sein, die Menschen in diesem Land wieder zusammenzubringen.
Erdogan vor historischer Abstimmung: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51768 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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