Gelangten doch mehr Informationen zu deutschen Asylfällen an die türkischen Sicherheitsbehörden? Eine Antwort der Bundesregierung enthält Details zum festgenommenen Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft.
20.973 Jahre Haftstrafe. Das jedenfalls verlangt die türkische Staatsanwaltschaft laut Medienberichten für den türkischen Kooperationsanwalt der deutschen Botschaft Ankara, Yilmaz S., und für einen mitangeklagten Anwaltskollegen. S. soll über Jahrzehnte Informationen von Asylbewerber in Deutschland vor Ort in der Türkei überprüft haben.
Nach Informationen von LTO wird ihm militärische und politische Spionage vorgeworfen. Das Höchststrafmaß liegt dafür bei 21 Jahren. Sein Anwalt, Levent Kanat, sagte LTO, dass der Jurist auch wegen Beschaffung persönlicher Daten ohne Einwilligung sowie der Verletzung vertraulicher Ermittlungen beschuldigt wird. "Ich glaube, es gibt keine Rechtsgrundlage für die Anklage", so Kanat. S. habe als Berater gearbeitet und mit den rechtlichen Befugnissen als Anwalt. "Seine Arbeit ist kein Verbrechen".
Der Prozess gegen S. beginnt am 12. März vor dem 13. Gericht für schwere Straftaten in Ankara.
Erst Anklage abgelehnt, dann kurzfristig Prozessauftakt
Yilmaz S. ist seit etwa 22 Jahren bei der Rechtsanwaltskammer Istanbul eingetragen. Laut Auswärtigem Amt (AA) soll er ungefähr genauso lange für die Botschaft gearbeitet haben. Mitte September 2019 wurde er festgenommen und sitzt seitdem im Sincan Gefängnis bei Ankara in Einzelhaft. Der Fall war aber erst im November ans Licht gekommen. Ein von ihm beauftragter Anwalt, Bekir D., der S. bei seiner Arbeit unterstützte, befand sich kurzzeitig ebenfalls in Haft. Er ist aber wieder in Freiheit.
Zunächst hatte das Gericht in Ankara Mitte Februar die Anklage gegen S. abgelehnt. Der Grund: Ein Teil der Anklage betrifft seine Arbeit als Anwalt. Nach türkischem Recht braucht die Staatsanwaltschaft dafür eine Zustimmung des Justizministeriums. Außerdem müsse der Botschaft Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin hat ein Gericht in Ankara die Anklage nun aber zugelassen.
"Die Botschaft Ankara steht in engem Kontakt zu den Anwälten von Yilmaz S. und zu seiner Familie", teilt die Bundesregierung mit. Mitte Dezember habe der deutsche Botschafter ihn in der Untersuchungshaft besucht. Die Anklageschrift sei der Bundesregierung aber nicht bekannt. In türkischen Medien klingt das allerdings ganz anders. Dort wundert man sich, warum Deutschland sich nicht viel mehr für den Angeklagten einsetzt.
Bundesregierung: Auch Datenträger bei Durchsuchung beschlagnahmt
Eine nun veröffentlichte Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Grünen im Bundestag gibt neue Details zu dem Fall preis. Bei S. Festnahme und der anschließenden Durchsuchung in seiner Wohnung sollen nicht nur Informationen zu insgesamt 59 Asylverfahren, die 113 Personen betreffen, durch die türkischen Behörden beschlagnahmt worden sein.
In der Antwort räumt die Bundesregierung nun auch ein, was lange befürchtet wurde, nämlich dass bei S. Datenträger beschlagnahmt wurden. Nach Informationen von LTO soll darunter mindestens ein USB-Stick sein. Welche und wie viele Daten aus Deutschland dabei in die Hände der türkischen Behörden fielen, sei ihr nicht bekannt.
Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, erklärte für LTO die Praxis der Vertrauensanwälte so: Ein Richter an einem deutschen Verwaltungsgericht ist mit Asylunterlagen eines Menschen aus der Türkei konfrontiert, die das BAMF für unglaubwürdig hält. Der Richter wendet sich deshalb an das Auswärtige Amt mit der Bitte, die Echtheit von vorgelegten Beweismitteln oder Aussagen auf ihre Korrektheit zu prüfen. Die Beamten ließen sich dann per Amtshilfe aus dem BAMF die entsprechenden Akten kommen. Teilweise werden Information dann an die vor Ort tätigen "Vertrauensanwälte" weitergegeben.
Weber, der aus den Asylverfahren den Rücklauf solcher Informationsbeschaffungen kennt, sagt, dass die Anwälte vor Ort zuweilen auch damit beauftragt würden, Nachforschungen im familiären Umfeld anzustellen.
Wie kam der Vertrauensanwalt an begehrte Informationen?
Die Antwort der Bundesregierung gibt nun genauere Einblicke in die Zusammenarbeit mit Kooperationsanwälten in der Türkei. Während in den Jahren 2015 und 2016 nur ein gutes Dutzend Anfragen des BAMF über das AA an die Botschaft weitergeleitet wurden, waren es im Jahr 2017 schon 173, im Jahr 2018 dann 396 und im Jahr 2019 sogar 429 Anfragen. Viel Arbeit für den Anwalt S.
In der Türkei gibt es für die Justiz eine spezielle Datenbank, das sogenannte UYAP, das Zentrale Datenregister für anhängige Verfahren. Anwälte haben dort einen privilegierten Zugang. Sie können sich, bevor sie ein Mandat übernehmen, einen Eindruck von dem Verfahren verschaffen. Dort sind Informationen zu Verurteilungen oder Anklagen abrufbar.
Die Datenbank UYAP dürfte indes für Vertrauensanwälte von nur geringem Wert gewesen sein. Denn Informationen zu sensiblen Verfahren, etwa mit Terrorismusbezug, kann die Staatsanwaltschaft für eine Eintragung in UYAP sperren lassen. Das betrifft vor allem Verfahren gegen Gülen-Anhänger, eine religiöse Sekte, welche die türkische Regierung für den gescheiterten Putsch 2016 verantwortlich macht und Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Also Verfahren gegen genau solche Menschen, die wegen Verfolgung auch Asyl in Deutschland suchen – und zu denen deshalb Informationen für den deutschen Staat besonders interessant sind.
Auch auf das sogenannte PolNet, eine Datenbank der türkischen Polizei haben Anwälte soweit ersichtlich keinen Zugriff. Offenbar musste der Anwalt auch andere Quellen außerhalb der Datenbanken nutzen, um an die begehrten Informationen zu kommen.
War der Anwalt bewusst in einem Graubereich unterwegs?
Mit ihrer Anfrage wollten die Abgeordneten nun wissen, ob die Bundesregierung oder die deutsche Botschaft Hinweise darauf hatten, dass sie den Vertrauensanwalt mit ihren Aufträgen in Gefahr gebracht haben? Die Antwort fällt knapp aus: "Nein." Und auch der Vertrauensanwalt soll gegenüber der Botschaft nicht erwähnt haben, dass er befürchtet habe, durch die Türkei bei seiner Arbeit kritisch überwacht worden zu sein.
Regierungsnahe türkische Medien hatten über ein Schreiben von S. an die deutsche Botschaft berichtet, dass die Ermittler der Anklage beigefügt haben sollen. Darin soll der Anwalt Zweifel geäußert haben, ob seine Tätigkeit legal gewesen sei. Und er soll nach einem speziellen Dokument von der Botschaft gefragt haben, das ihm Rückendeckung verschaffen sollte. Nachprüfen lässt sich das bislang nicht. Die Ermittlungsunterlagen sind unter strengem Verschluss.
Der Fall hatte auch in Deutschland Wellen geschlagen. Ende November kam der Innenausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. Nach der Festnahme sollen Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt und Verfassungsschutz informiert worden sein. Sie sollten die betroffenen Asylbewerber über den Vorfall informieren. Die Bundesregierung schließt nicht aus, dass türkische Sicherheitsbehörden die erlangten Informationen nutzen könnten, um sie für weitere Ermittlungen auch gegen Angehörige einzusetzen.
Spionage-Prozess in Ankara beginnt im März: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40631 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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