Das LG Nürnberg-Fürth soll entscheiden, ob ein Lokführer sich nach dem Selbstmord eines Zwanzigjährigen im Bahnverkehr bei dessen Eltern schadlos halten kann. Was zynisch anmutet, ist rechtlich wenig erstaunlich. Roland Schimmel über die Schuldfähigkeit von Selbstmördern, das allgemeine Berufsrisiko von Lokführern und die Konsequenzen eigenverantwortlichen Handelns.
Ein Selbstmord ist für die Angehörigen fast immer tragisch. Dass ein Lokführer die ohnehin gebrochenen Hinterbliebenen in Anspruch nehmen will für Schäden, die er durch den Selbstmord ihres geliebten Menschen erlitten hat, ist kein gewöhnlicher Vorgang. Sicherlich neigt man im ersten Augenblick dazu, solche Ersatzansprüche zu verneinen.
Rechtlich gesehen ist das Gegenteil richtig. Entkleidet man den Sachverhalt von seinen emotional berührenden Begleitumständen, erweist sich der Schadensersatzanspruch des Lokomotivführers, der den Zug fuhr, welchen der Selbstmörder als seine Todesursache ausgesucht hat, als einer aus unerlaubter Handlung. Ist derjenige, der sie begangen hat, verstorben, kann man sich an seine Erben wenden. Nichts anderes tut der Lokführer, wenn er die Angehörigen des Suizidenten in Anspruch nimmt.
Einschlägig ist § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), dessen Voraussetzungen regelmäßig sämtlich erfüllt sein dürften. Auch das moralische Entsetzen relativiert sich, wenn man die unerfreuliche Situation betrachtet, in die der Lokomotivführer bei einem Selbstmord auf den Gleisen gerät. Gegen den eigenen Willen einen Menschen zu töten, weil die physikalischen Gesetze bei einem fahrenden Zug nichts anderes zulassen, ist sicher eine Erfahrung, die geeignet ist, Traumata zu verursachen.
Es ist empirisch erwiesen, dass diese bei vielen betroffenen Lokomotivführern mindestens zu sofortiger und kurzzeitiger Dienstunfähigkeit führen, nicht selten sogar zu wochen- oder monatelanger Behandlungsbedürftigkeit. Fast zwangsläufig entstehen damit handfest messbare Verdienstausfallschäden wie der regelmäßige Arbeitslohn sowie erwartbare Schichtzulagen. Im schlimmsten Fall kann der traumatisierte Bahnangestellte dauerhaft nicht mehr arbeiten. Je nach Lebensalter und Erfolgsaussichten einer Umschulung im Einzelfall drohen also enorme Ausfallsummen. Hinzu tritt der Ersatz für die immateriellen Schäden; für Schlaflosigkeit, Alpträume und das Ungemach längerer medizinischer Behandlung fällt leicht ein vierstelliger Betrag an – wenn auch, wie immer, abhängig von den Umständen des Einzelfalls.
Der Selbstmörder verletzt nicht nur sich selbst
Der Selbstmörder ist, das dürfte in allen Fällen so sein, an einem Punkt seines Lebens angekommen, an dem er nicht mehr weitermachen kann oder will. Aber er verletzt durch sein eigenes willensgesteuertes Verhalten nicht nur sich selbst, sondern auch den Lokomotivführer, wenn er, wie jährlich hunderte von Menschen, den Tod durch den so genannten Schienensuizid wählt.
Die psychische Beeinträchtigung, die der traumatisierte Lokführer erleidet, kann Krankheitswert erreichen, das ist anerkannt. Ebenso ist klar, dass ein Verhalten des Verletzers auch rein psychisch die Ursache sein kann für eine Gesundheitsverletzung beim Geschädigten.
Und auch, wenn der Selbstmörder in der konkreten, häufig zutiefst verzweifelten Situation daran nicht denkt: Diese Verletzung des Lokführers geschieht rechtswidrig und in aller Regel schuldhaft, nämlich jedenfalls fahrlässig. Es darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden und es ist damit absehbar, dass es traumatisierende Wirkung haben kann, einen unabwendbaren Todesfall mitzuerleben.
Denkbar ist immerhin, dass der Anspruch wegen fehlender Schuldfähigkeit des Suizidenten ausgeschlossen ist (§ 827 Abs. 1 BGB). Mancher Selbstmörder wird psychisch krank sein, nicht selten etwa an Depressionen gelitten haben, vielleicht auch an schwersten Depressionen.
Ausweg Schuldunfähigkeit?
So einfach aber ist keineswegs immer. Vielmehr muss unterschieden werden: Führt eine spontane Reaktion auf eine schwere Lebenskatastrophe zum Selbstmordentschluss, mag die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung zeitweilig ausgeschaltet sein. Anders dürften die Dinge wiederum beim so genannten Bilanzselbstmord liegen, der sich etwa in umfangreichen Abschiedsbriefen dokumentiert. Ein Mensch also, der nach einer reiflichen Abwägung aus welchen Gründen auch immer die Entscheidung trifft, seinem Leben ein Ende zu setzen, handelt aus freiem Willen. Und ist damit sicherlich nicht schuldunfähig.
Es wäre an den Angehörigen, die der durch den Selbstmord geschädigte Lokführer auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, zu beweisen, dass der Suizident schuldunfähig war. Damit wird dieser Ausweg aus der Haftung gleichermaßen emotional belastend wie rechtlich unsicher: Eine medizinische Begutachtung kann nur noch aufgrund vorhandener Patientenunterlagen rückwirkend erfolgen.
Es ist weniger makaber, als es klingt: Auch den Lokführer kann ein Mitverschulden treffen, das seinen Anspruch gegen die Angehörigen des Selbstmörders mindert (§ 254 Abs. 1 BGB). Zwar kann er einen fahrenden Zug im Zweifel nicht mehr anhalten, wenn er den Todeskandidaten auf der Strecke sieht, sein Mitverschulden knüpft also nicht an sein eigenes Verhalten oder Unterlassen an. Bei Eisenbahnen besteht aber, wie bei anderen Verkehrsmitteln auch, immerhin deren Betriebsgefahr. Allerdings wird der Selbstmörder auf den Gleisen normalerweise ein unabwendbares Ereignis sein, so dass in aller Regel dessen Haftung ungemindert bestehen bleiben dürfte.
Ausweg Lebens- oder Berufsrisiko?
Dem moralischen Impuls weiter folgend, dass die Hinterbliebenen mit ihrer Trauer genug zu tun haben und für den Selbstmord ihres Angehörigen nicht auch noch bezahlen sollen, liegt weiter der Gedanke nahe, dass die dem Lokführer entstandenen Schäden dem Suizidenten, nun also seinen Hinterbliebenen, nicht zurechenbar sein könnten.
Immerhin sprechen statistisch beinahe konstant mehrere hundert Schienensuizide jährlich in Deutschland dafür, dass ein Lokomotivführer schon bei der Berufswahl damit rechnen muss, unfreiwillig an einem solchen Selbstmord beteiligt zu werden. Das liegt auch deshalb nahe, weil die Rechtsprechung beim Ersatz für Schockschäden beim Anblick schwerer Unglücksfälle zurückhaltend ist. Sie gewährt Ersatz nur unter einschränkenden Bedingungen und erklärt so die Fehlverarbeitung der Zeugenschaft auch schlimmster Katastrophen zum allgemeinen Lebensrisiko.
Der Annahme, der Lokomotivführer nehme es in Kauf, zum Werkzeug eines Selbstmords zu werden, ist aber entgegen zu halten, dass der Selbstmörder bei seiner letzten Handlung die Bahn eindeutig missbraucht, also nicht bestimmungsgemäß nutzt. Insofern liegt die Situation deutlich anders als bei einem Polizisten oder Feuerwehrmann, wo der Gedanke an die Risikoübernahme noch eher überzeugen könnte.
Der einzige Weg: Das Erbe ausschlagen
Dass die Schadensersatzpflicht unmittelbar nach ihrer Entstehung durch den Tod des Ersatzpflichtigen auf dessen Erben übergeht, ist rechtlich betrachtet nichts Ungewöhnliches (§ 1922 Abs. 1 BGB). Wenn also Eltern, Ehepartner oder Kinder des Selbstmörders die finanziellen Folgen des Geschehens nicht tragen wollen oder können, bleibt ihnen nur die Ausschlagung des Erbes (§ 1943 BGB).
Nicht selten wird diese wirtschaftlich sinnvoll oder gar zwingend sein, weil das Erbe überschuldet ist und durch ungewisse künftige Verbindlichkeiten gegenüber dem Geschädigten weiter belastet zu werden droht. Der rechtliche Rat an die Erben wird also regelmäßig lauten, nach einer vorläufigen Bilanzierung die Ausschlagung in Erwägung zu ziehen und fristgemäß zu erklären.
Es ist übrigens nicht immer der Lokomotivführer selbst, der die trauernden Angehörigen mit seinem Schadensersatzanspruch konfrontiert. Kraft gesetzlichen Anspruchsübergangs sind es meist die Sozialversicherungsträger. Ist der Geschädigte etwa berufsunfähigkeitsversichert, haben die Angehörigen des Verletzten wegen des wohl größten Schadensbetrags mit dem Versicherer zu tun. Spätestens hier läuft also der Vorwurf der Taktlosigkeit des Lokführers ins Leere.
Wer die Ersatzpflicht der Angehörigen in den anderen, nicht versicherten Fällen als herzlos empfindet – obwohl man sie mit guten Gründen als logische Konsequenz der Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Tun beschreiben kann –, wird vielleicht eine Kollektivierung der Schäden befürworten. Angesichts der möglichen Schadensvolumina und der Möglichkeit der Erbausschlagung ist das sicherlich ein sinnvoller Gedanke. Allerdings muss, wer die Angehörigen aus der wirtschaftlichen Verantwortung entlassen will, bereit sein, die Kosten der Versicherung zu tragen, auch wenn sie etwa auf den Preis der Bahnfahrkarte umgelegt werden.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Rechtsanwalt und lehrt an der Fachhochschule Frankfurt am Main.
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Roland Schimmel, Trauma nach Schienensuizid: . In: Legal Tribune Online, 27.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3875 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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