Thüringens Regierung will noch vor den Wahlen im Herbst 2019 vom alten Landtag das Haushaltsgesetz für 2020 verabschieden lassen. Legislaturübergreifende Haushaltsgesetzgebung? Verfassungsrechtlich ziemlich bedenklich, findet Sebastian Roßner.
Am 15. Juni 1215 rammten die englischen Barone Pflöcke ein. Sie zwangen König Johann, der durch einen ebenso kostspieligen wie erfolglosen Krieg gegen Frankreich geschwächt war, in der Magna Charta zwei fundamentale Garantien ab: Der König durfte nicht länger willkürlich freie Personen verhaften und musste fortan die Zustimmung seines Rates einholen, um Abgaben zu erheben.
Diese Bestimmungen sollten in den folgenden Jahrhunderten noch verfassungsrechtliche Karriere machen. Das Recht, zu genehmigen, welche Abgaben der König erheben darf, entwickelte sich zunächst zum Budgetrecht, also zur Befugnis des Parlaments, Einnahmen und Ausgaben des Staates umfassend zu kontrollieren, und führte schließlich zur parlamentarischen Demokratie.
Im Windschatten des gegenwärtigen Haushaltsstreits in den Vereinigten Staaten tritt das Budgetrecht des Parlaments auch in Deutschland wieder auf die verfassungsrechtliche Bühne, und zwar in Thüringen.
Dort will die rot-rot-grüne* Landesregierung einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2020 vorlegen, der noch vor den Wahlen im Herbst vom alten Landtag verabschiedet werden soll. Damit betritt die Regierung haushaltsrechtliches Neuland. Ein Haushaltsgesetz, das nur für einen Zeitraum in der folgenden Wahlperiode gelten soll, hat es bisher weder im Bund noch in den Ländern gegeben. Was hat die Landesregierung zu diesem Schritt bewogen?
Mögliche Pattsituation im Landtag lässt Rot-Rot-Grün* um Haushalt fürchten
Die Antwort hat zwei Komponenten: Wegen des nach einigem hin und her festgesetzten Wahltermins am 27. Oktober 2019 wird die Zeit für die neu gewählten Volksvertreter nicht mehr ausreichen, noch bis zum Jahresende 2019 den Haushalt für das kommende Jahr zu verabschieden.
Die Demoskopen prophezeien zudem eine Pattsituation im neuen Landtag, denn keine Fraktion will mit der AfD koalieren. Nach den Wahlprognosen kommen aber weder das linke noch das bürgerliche Lager ohne die Mandate der AfD auf eine Mehrheit im Landtag. Sollten sich diese Einschätzungen bewahrheiten, bliebe die gegenwärtige Landesregierung zwar gemäß Art. 75 Abs. 3 Verfassung des Freistaats Thüringen (VerfThür) geschäftsführend im Amt. Sie könnte sich aber nicht mehr auf eine verlässliche Majorität im Parlament stützen, etwa um einen Haushalt für 2020 zu verabschieden.
Verabschiedet nun der alte Landtag noch den Haushalt, verspricht das zwei Vorteile: Eine künftig nur noch geschäftsführende rot-rot-grüne* Regierung hätte zumindest ein Jahr lang ungeschmälert die Mittel zur Verfügung, um ihre Politik fortzusetzen, was naturgemäß aus Sicht der Opposition gerade der Nachteil dieses Vorgehens ist. Zudem würde dem verfassungsrechtlichen Gebot der Vorherigkeit des Haushalts Rechnung getragen. Dieser Grundsatz, in Art. 99 Abs. 1 ThürVerf oder für den Bund in Art. 110 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) niedergelegt, besagt, dass das Budget nicht rückwirkend, sondern für die Zukunft verabschiedet werden soll. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dies in verschiedenen Entscheidungen für den Bund und auch für Thüringen besonders hervorgehoben (2 BvE 1/74, BVerfGE 45, 1 (31 ff.), 2 BvE 14/83, E 66, 26 (38); für Thüringen in 2 BvQ 6/95, E 92, 130 (137)). Im Haushaltsgesetz, so das Gericht, sollen wirtschaftliche Grundsatzentscheidungen für zentrale Bereiche der Politik getroffen werden, und zwar nicht nur legitimierend ex post, sondern gestaltend ex ante. Das scheint dafür zu sprechen, dass die thüringische Regierung wohl daran tut, den Haushaltsplan noch in den alten Landtag einzubringen.
Aber die soeben zitierte erste Grundsatzentscheidung 2 BvE 1/74 hatte unter anderem den Missbrauch von Art. 111 GG durch die damalige Bundesregierung zum Ausgangspunkt. Diese Norm, der in Thüringen Art. 100 VerfThür entspricht, gestattet der Regierung auch ohne aktuelles Haushaltsgesetz im Wege eines vorläufigen Haushalts alle bereits eingegangenen Verpflichtungen weiterhin zu erfüllen und Maßnahmen fortzuführen, die im vorherigen Haushaltsgesetz mit Finanzmitteln ausgestattet wurden. Das BVerfG stellte in seiner Entscheidung klar, dass ein regelmäßiger Gebrauch dieser Ausnahmevorschrift das Budgetrecht des Parlaments aushöhle, und zwar deshalb, weil die wirtschaftlichen Entscheidungen aus einem alten Haushaltsgesetz fortgeschrieben werden, die nicht notwendig mit dem aktuellen Willen des Parlaments übereinstimmen müssen. Im Kern ging es also um die Grundsätze von Demokratie und Volkssouveränität. Die Regierung soll nämlich, das ist der Zweck des parlamentarischen Budgetrechts, jedes Jahr aufs Neue der Volksvertretung gegenüber um Geld bitten müssen, und zwar mit den Ausgaben, die sie plant, als politischer Begründung in der Hand.
Vorläufiger Haushalt wäre die demokratischere Lösung
Das Problem, dass sich die Exekutive aus dieser parlamentarischen Kontrolle lösen könnte, verschärft sich durch das Vorhaben der Thüringer Regierung sogar noch gegenüber dem Fall, den das Bundesverfassungsgericht 1976 zu entscheiden hatte, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens sollen jetzt nicht nur die Budgetentscheidungen aus einem vergangenen Haushaltsjahr in die neue Rechnungsperiode fortwirken, sondern sogar die Entscheidungen eines gar nicht mehr bestehenden Landtags, dessen Legitimation abgelaufen ist. Und zweitens geht es nicht nur um einen inhaltlich begrenzten vorläufigen Haushalt nach Art. 100 VerfThür, durch den keine neuen Ermächtigungen für Ausgaben begründet werden können, sondern um ein reguläres Haushaltsgesetz, das die vollen Möglichkeiten zur politischen Gestaltung bietet. Kurz gesagt ist die Legitimation schwächer, die inhaltliche Reichweite aber größer als bei der gewöhnlichen Konstellation eines vorläufigen Haushalts.
Diese Spannung wäre noch zu hinzunehmen, wenn der künftige Landtag die Möglichkeit hätte, eigenständig einen Nachtragshaushalt zu verabschieden und so die Entscheidungen der alten Volksvertretung zu korrigieren. Dem ist aber nicht so. Denn das Initiativrecht für die Haushaltsgesetzgebung liegt ausschließlich bei der Regierung, Art. 99 Abs. 3 VerfThür. Ohne die Mitwirkung der Landesregierung hat der neue Landtag keine Möglichkeit, sich von den budgetären Fesseln zu befreien, die ihm der alte Landtag angelegt hat. Der Grundsatz der Vorherigkeit geht so zu Lasten des parlamentarischen Budgetrechts, welches er eigentlich schützen soll. Auf Basis eines vorläufigen Haushalts die Regierungsgeschäfte weiterzuführen, wäre demgegenüber das kleinere Übel. Es würde auch besser mit der verfassungsrechtlichen und politischen Situation einer geschäftsführenden Regierung übereinstimmen.
Es ist verständlich, dass die Landesregierung in Erfurt gerade versucht, sich ein Rettungsboot zu zimmern, für den Fall, dass ihre Mehrheit im Landtag untergeht. Dennoch ist es letztlich falsch und unnötig, denn die Macht des Parlaments, die Exekutive lahmzulegen, ist begrenzt durch das Instrument des vorläufigen Haushalts. Für politische Projekte, die diesen Rahmen sprengen, wird eine Landesregierung ohne feste parlamentarische Mehrheit richtigerweise den mühsamen, aber erzdemokratischen Weg gehen müssen, sich Mehrheiten zu beschaffen, indem sie mit den Fraktionen verhandelt und Kompromisse eingeht.
Dr. Sebastian Roßner arbeitet für die Kanzlei LLR in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
*Anm d. Red: Korrigiert am 22.02. kurz nach Veröffentlichung: In Thüringen regiert Rot-Rot-Grün, neben der Linken und der SPD also auch die Grünen.
Thüringen legt Haushalt für künftige Wahlperiode vor: . In: Legal Tribune Online, 22.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34001 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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