Zwei Studentinnen stehen am Mittwoch vor dem Strafrichter. Sie sollen aus dem Müllcontainer eines Supermarktes Lebensmittel entwendet haben. Die strafrechtliche Wertung ist eindeutig.
Allein aus Privathaushalten landen nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung jährlich 4,4 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, in Supermärkten sollen es am Tag ungefähr 45 Kilogramm sein. Längst gibt es eine Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft mit dem Titel "Zu gut für die Tonne", über die Menschen angeregt werden, das Wegwerfen von Lebensmitteln zu vermeiden. Viele Supermärkte spenden abgelaufene Lebensmittel an die Tafeln und Bürger gehen "containern" oder "mülltauchen", sie nehmen also weggeworfene Lebensmittel aus dem Müll der Supermärkte, um sie zu verwerten, anstatt die Ware dem Müll zu überlassen. All das berührt Fragen von Ethik und Moral – und dann gibt es noch das Recht.
Das Containern ist nach Auffassung vieler Juristen ein Diebstahl nach § 242 Strafgesetzbuch (StGB). An dieser Wertung hat sich seit Jahren nichts geändert. Wer containert und dazu noch gesicherte Müllbehälter aufbricht, muss sogar mit einer Anklage eines besonders schweren Falles nach § 243 StGB rechnen. Genau das ist zwei Studentinnen aus Bayern passiert. Ihnen wird vorgeworfen, im Juni 2018 im bayerischen Olching Lebensmittel aus dem nur mit einem Sechskantschlüssel zu öffnenden Müllcontainer auf einem frei zugänglichen Parkplatz entnommen zu haben.
Der Supermarkt erstattete zunächst Strafanzeige, die später zurückgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft München II blieb jedoch bei dem Tatvorwurf, so dass es am Mittwoch zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck kommen soll. Als Wert der mutmaßlich gestohlenen Ware hat die Staatsanwaltschaft 100 Euro zugrunde gelegt – das wäre der Preis der Neuware im Supermarkt.
Suche nach dem Unrecht
Für den Anwalt einer der Studentinnen, Max Malkus, ist all das eine Überraschung: "Selbst wenn es in solchen Fällen einer Strafverfolgung kommt, so wurden die Verfahren meistens eingestellt", sagt er. Hier habe es zunächst einen Strafbefehl über 1.200 Euro gegeben, das letzte Angebot der Staatsanwaltschaft sei eine Einstellung gegen die Auflage gewesen, acht Stunden soziale Arbeit bei der Tafel in Fürstenfeldbruck zu leisten. "Die gemeinnützige Arbeit würde meine Mandantin grundsätzlich gerne leisten, sie hat auch schon in der Vergangenheit freiwillig für die Tafel gearbeitet. Allerdings erkennen wir hier nicht, worin das vorgeworfene Unrecht ihrer Handlung bestanden haben soll", sagt Malkus. Dies auch vor dem Hintergrund des Staatsziels aus Art. 20a Grundgesetz. Danach habe der Staat sich 1994 verpflichtet, die natürlichen Lebensgrundlagen (…) im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu schützen - und binde so auch das Gericht bei seiner Entscheidung.
Dass die Verfahren in aller Regel eingestellt werden, ist auch die Beobachtung von Professor Dr. Bernd Heinrich, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Urheberrecht an der Uni Tübingen. "An der strafrechtlichen Bewertung ändert das aber nichts", sagt er. Die Supermärkte seien verpflichtet, ihren Müll ordnungsgemäß zu entsorgen und müssten dies auch sicherstellen. "Von einer offensichtlichen Eigentumsaufgabe, die den Tatbestand des Diebstahls ausschließen könnte, kann man hier nicht ausgehen", sagt Heinrich. Die Fälle seien vielmehr vergleichbar mit dem Sperrmüll, den man vor die Haustür stellt. Nach der herrschenden Meinung werde damit ein Übereignungsangebot abgegeben. Eine Eigentumsaufgabe, eine so genannte Dereliktion, sei auch darin nicht zu sehen. Ebenso verhalte es sich mit den Lebensmitteln in den Müllbehältern der Supermärkte und den Entsorgern.
"Völlig unumstritten ist die Strafbarkeit des Containerns freilich nicht", sagt Jens Puschke, Prodekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Medizinstrafrecht. "Aber in der Tat scheint es weitgehend herrschend zu sein, dass das Verstauen von Lebensmitteln in einem verschlossenen Container zur Abholung eher darauf hindeutet, dass der Supermarkt nicht jedes Interesse daran verloren hat und somit jedenfalls zunächst sein Eigentum noch nicht aufgeben wollte." Ein Einfallstor für die mögliche Straflosigkeit könne der Vorsatz hinsichtlich der Fremdheit der Lebensmittel sein. "Hier könnte durchaus argumentiert werden, dass die Personen in der Parallelwertung in der Laiensphäre nicht davon ausgingen, dass der Supermarkt weiterhin Eigentümer hinsichtlich der weggeworfenen Sachen war", sagt Puschke. Das sei aber eine Beweisfrage.
Dies ist der Ansatz von Rechtsanwalt Malkus: Mit der Entsorgung bestehe keine vom Strafrecht zu schützende Eigentumsbeziehung zwischen dem Supermarkteigentümer und den Lebensmitteln und damit auch kein diebstahlsfähiges Eigentum mehr - sondern eine straflose Aneignung von entsorgten, aber noch genießbaren Lebensmitteln
De-Facto Entkriminalisierung in Frankreich
Der Anwalt muss versuchen, den Fall bereits auf der Tatbestandsebene abzuschmettern – auf der Ebene von Rechtfertigung und Schuld würde es noch schwieriger. Ein rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB wäre allenfalls denkbar, wenn die Studentinnen auf die Lebensmittel angewiesen wären.
"Dann dürfte die Notlage aber nicht anders abwendbar sein, als mit der Entwendung der Lebensmittel", erklärt Strafrechtler Heinrich. Eine solche sei aber stets abwendbar, wenn es ein staatlich geordnetes Verfahren gibt, um diese Not abzuwenden. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum, also die unvermeidbare fehlende Einsicht, etwas Verbotenes zu tun, liege nicht vor: "Die Leute aus dieser Szene wissen schon, was sie tun und sie dürften ja für einen solchen Schuldausschluss nicht im Ansatz gezweifelt haben", meint Heinrich.
Für die Studentinnen bleibt die Hoffnung, dass – wie in ähnlichen Fällen – auch ihr Verfahren noch eingestellt wird. Allerdings soll der konkrete Container besonders gesichert gewesen sein, die Staatsanwaltschaft hat den Warenwert auf 100 Euro festgelegt. Wäre der Warenwert unter der Geringwertigkeitsgrenze von 25 Euro, wäre der besonders schwere Fall des Diebstahls nach § 243 Abs. 2 StGB ausgeschlossen. "Ein Diebstahl aber bleibt es, egal ob der Wert über oder unter 25 Euro liegt", teilt die Staatsanwaltschaft auf LTO-Anfrage mit. Die besondere Sicherung der Ware würde dann nur noch bei der Strafzumessung eine Rolle spielen.
Im Fall eines "einfachen" Diebstahls nach § 242 StGB käme allerdings noch ein Aspekt hinzu: "Außerdem muss die Staatsanwaltschaft begründen, warum sie ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung sieht, obwohl der Strafantrag zurückgezogen wurde", sagt Heinrich. "Das ginge etwa, wenn der Fall der Studentinnen sich von den sonst üblichen abhebt oder in diesen Fällen eine Grenze erreicht wurde, so dass die Fälle nun strafrechtlich zu ahnden wären."
"Verhindern kann diese Strafverfahren nur der Gesetzgeber", sagt Professor Dr. Martin Heger, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, europäisches Strafrecht und neuere Rechtsgeschichte in Berlin. Denn natürlich gebe es in diesen Fällen zwei nebeneinanderstehende Ebenen: Moral und Recht.
In Frankreich hat der Gesetzgeber reagiert: "Dort wurde 2016 das Gesetz, Kampf gegen Lebensmittelverschwendung‘ verabschiedet und die Betreiber von Supermärkten, die Lebensmittel wegwerfen, als Verursacher des Lebensmittelmülls in die Verantwortung genommen und es ihnen, genauso wie Tschechien Anfang dieses Jahrs verboten, Lebensmittel wegzuwerfen ", weiß Rechtsanwalt Malkus. "Mit dem Verbot genießbare Lebensmittel wegzuwerfen und dem Gebot, diese zu Spenden, ist der Wegnahme von Lebensmitteln aus den Containern der Supermärkte die faktische Grundlage entzogen".
Anklage gegen zwei Studentinnen: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33521 (abgerufen am: 05.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag