Die Union will den Missbrauch von Verteidigungsrechten angehen. Auch wenn der Untergang des Rechtsstaats dabei nicht wirklich droht: Die für den Rechtsstaat prägende Balance im Strafprozess sollte nicht riskiert werden, warnt Hans Kudlich.
Anderthalb Jahre nach dem "Sommer der Reformen", der uns unter anderem die Quellen-Telekommunikationsüberwachung, die Online-Durchsuchung, die partielle Abschaffung des Richtervorbehalts in § 81a Strafprozessordnung (StPO), eine – wenn auch nur "kleine" – Fristenregelung im Beweisantragsrecht, die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten bei Ablehnungsanträgen sowie eine erweiterte Suche nach Beinahe-Treffern bei DNA-Reihenuntersuchungen gebracht hat, soll es in die nächste Runde gehen: Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus möchte – als Ziel erst einmal ohne Zweifel begrüßenswert – die Dauer von Strafverfahren verkürzen. Angedeutet finden sich die Pläne bereits im Koalitionsvertrag. Sie stehen dort unter der Überschrift "Pakt für den Rechtsstaat".
Dazu soll es zum einen mehr Personal in der Justiz geben; das wird nicht nur den juristischen Nachwuchs freuen, sondern ist spontan überzeugend, wird doch das Ansteigen des auf den einzelnen Stellen liegenden Erledigungsdruckes schon seit Jahren als ein Grund für unerwünscht lange Verfahrensdauern identifiziert.
Zum anderen fordert die Union aber auch Reformen, um zu verhindern, dass die Verteidigungsrechte zur Prozessverschleppung genutzt werden können. Exemplarisch nennt er das Recht der Richterablehnung.
Reflexartige Reaktionen – und ihre Berechtigung
Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Vorschlag überraschen nicht wirklich: Der Deutsche Richterbund pflichtet CDU-Mann Brinkhaus bei und fordert Möglichkeiten, eine gezielte Obstruktion von Strafverfahren durch die Verteidigung, etwa durch eine Vielzahl von Befangenheitsanträgen gegen Richter, besser in den Griff zu bekommen. Der Deutsche Anwaltsverein hingegen spricht demgegenüber von der bloßen "Mär vom arglistig verzögernden Strafverteidiger" und betont, dass die rechtsstaatlich gebotene "Möglichkeit der effektiven Verteidigung (…) eben manchmal ihre Zeit" dauert.
Beide Positionen kennt man in diesem Kontext seit Jahrzehnten – und beide können sich auf das Rechtsstaatsgebot berufen: einmal in der Ausprägung der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege", das andere Mal in derjenigen des Grundrechtsschutzes im Strafverfahren als "Seismograph der Staatsverfassung".
Beide Aussagen sind nicht per se unberechtigt, und das ist die Crux gerade auch an der Argumentation mit "dem Rechtsstaat": Als Argument verleiht er jeder Position auf den ersten Blick höhere Weihen; allerdings trägt das Rechtsstaatsgebot notwendig auch den Aspekt eines angemessenen Ausgleichs in sich, der beide Seiten berücksichtigen muss. Schon deshalb, weil auch die rechtstatsächlichen Grundlagen ambivalent sind: Denn einerseits ist zwar – darüber sollte letztlich weitgehender Konsens bestehen – davon auszugehen, dass der Missbrauch von strafprozessualen Verfahrensrechten keineswegs den Regelfall der Strafverteidigung vor deutschen Gerichten darstellt; andererseits darf bei einer insoweit quantitativen Betrachtung aber auch nicht vernachlässigt werden, dass eine einzelne Kammer theoretisch auch schon durch ein einziges durch (präsumtive) Missbrauchsfälle überlastetes Verfahren in ihrer Arbeitsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden kann.
Gerichte müssen auf Missbrauch durch Verteidiger reagieren
Dass ein Gericht die Möglichkeit haben sollte, auf (extreme) Fälle eines Missbrauchs von Verteidigungsrechten zu reagieren, kann daher nicht ernsthaft bestritten werden. Wenn in einem Urteil des Bundesgerichtshofs berichtet wird (Urt. v. 07.11.1991, Az. 4 StR 252/91), dass im zugrundeliegenden Verfahren von einem Angeklagten im ersten Prozessjahr circa 300 Beweisanträge gestellt worden waren, sodann weitere 200 vorbereitete Beweisanträge angekündigt wurden und zuletzt erklärt wurde, man schließe sich schon jetzt den circa 8.500 schriftlich eingereichten Beweisanträgen an, die der Mitangeklagte gefertigt hatte, dann muss ein Tatgericht hier reagieren können.
Ein Beispiel: Wenn ein nicht inhaftierter Angeklagter erklärt, man könne seine Tat nur vor dem Hintergrund seines Glaubens verstehen, und dafür müsse er im Rahmen seines letzten Wortes erst einmal die Bibel vorlesen, kann es nicht sein, dass das Gericht dies über Jahre und hunderte von Verhandlungstagen zulassen muss, auch wenn § 258 StPO insoweit keine explizite Beschränkung des letzten Wortes vorsieht.
Aber solche Vorgehensweisen bilden eben nicht den Regelfall. Wenn jedoch der Gesetzgeber auf Grund der (unbestrittenen!) Schwierigkeiten einer konkreten Reaktion auf tatsächliche Missbräuche (etwa: Identifizierung, Kriterien, verfassungsrechtliche Legitimation einer Missbrauchsreaktion mit Blick auf das Gesetzlichkeitsprinzip) prozessuale Rechte per se auch für nicht dysfunktional agierende Verteidiger verkürzt, werden damit jedenfalls zu großen Teilen (auch) die Falschen getroffen.
Dies gilt umso mehr, als die Tatgerichte offenbar mitunter dazu neigen, Hilfsmittel, die ihnen vom Gesetzgeber oder auch von der obergerichtlichen Rechtsprechung als Hilfsmittel für extrakonzeptionelle Einzelfälle an die Hand gegeben werden, kochrezeptartig auch auf andere Fälle zu übertragen. Die (vorübergehende) Ausweitung der in Extremfällen vor circa 15 Jahren vom BGH ersonnenen bzw. gebilligten Möglichkeit der Fristsetzung für Beweisanträge auf eine Vielzahl auch "unproblematischer" Verfahren war hier ein anschauliches Beispiel.
Geltende Verfahrensgarantien nicht vorschnell einschränken
Vieles spricht daher dafür, den Tatgerichten zwar Möglichkeiten für die Abwehr von tatsächlich festgestellten Missbrauchsfällen an die Hand zu geben (und dabei gegebenenfalls auch den Rückgriff auf ein allgemeines, ungeschriebenes Missbrauchsverbot jedenfalls nicht kategorisch auszuschließen).
Freilich muss dies auf Extremfälle beschränkt bleiben, die nicht nur in der Begründung sorgfältig dargetan werden müssen, sondern auch einer engen revisionsrechtlichen Kontrolle unterliegen. Das sollte einen Gegenausschlag des Pendels – also gleichsam einen "Missbrauch der Missbrauchsreaktion" – eigentlich wirkungsvoll verhindern können.
Präventive, alle Prozesssubjekte treffende weitere gesetzgeberische Beschränkunken der Verteidigungsrechte sollten dann eigentlich jedenfalls mit Blick auf die "Missbrauchsabwehr" hinfällig sein. Und aus bloßen Effizienzgesichtspunkten geltende Verfahrensgarantien vorschnell einzuschränken, ist problematisch – schon die Reformen des Jahres 2017 waren in ihrer Gesamttendenz stärker auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als auf den Schutz subjektiver Rechte ausgerichtet. Dieser Weg lässt sich nicht beliebig fortschreiten, ohne die für den Rechtsstaat prägende Balance zu riskieren.
Prof. Dr. Hans Kudlich lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist unter anderem Autor und Mitherausgeber des Münchener Kommentar(s) zur StPO.
Reformen gegen den Missbrauch im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 22.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33373 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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