Schiedsrichterfehler im Sport: Ent­schei­dend ist nur auf'm Platz

von Dr. Christian Deckenbrock

21.01.2017

2/3: Videobeweis und Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung schließen sich nicht aus

Anders als der DFB versteht die FIFA den Begriff der Tatsachentscheidung weit und subsumiert unter diesen Begriff auch den Regelverstoß. Und auch wenn nach § 17 Abs. 2 c) der Rechts- und Verfahrensordnung des DFB (RuVO) Einsprüche gegen die Spielwertung auf einen Regelverstoß des Schiedsrichters gestützt werden, wenn dieser Regelverstoß die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat, ist es seit dem Helmer-Tor 1994 nicht mehr zu einer Wiederholung eines Fußball-Bundesligaspiels gekommen. In anderen Sportarten – wie etwa im Basketball oder Handball – wird dagegen diese Differenzierung immer noch gelebt. Jedenfalls ab und an kommt es dort zu Spielwiederholungen wegen eines Regelverstoßes der Schiedsrichter.

Die Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung findet aber ihre Grenze, wenn der Schiedsrichter das Spiel noch nicht fortgesetzt hat. Die Fußballregeln verbieten dem Schiedsrichter nur dann eine Änderung seiner Entscheidung, wenn er feststellt, dass seine Entscheidung nicht korrekt ist oder von einem anderen Spieloffiziellen einen dementsprechenden Hinweis erhält, und wenn das Spiel bereits fortgesetzt wurde oder der Schiedsrichter die erste oder zweite Halbzeit (einschließlich Nachspielzeit) beendet und das Spielfeld verlassen oder das Spiel beendet hat.

Vor diesem Hintergrund wäre – anders als dies über Jahre vertreten wurde – die Einführung des Videobeweises durchaus mit dem Schutz der Tatsachenentscheidung vereinbar. Im Gegenteil: Er würde in vielen Fällen verhindern, dass die Folgen einer fehlerhaften Schiedsrichterentscheidung überhaupt eintreten. Die Verbände müssen in diesem Zusammenhang vielmehr die Frage beantworten, wie die Videotechnik in die Entscheidungsfindung einbezogen werden kann, ohne dass sich der Charakter des Spiels durch zu lange Wartezeiten verändert.

Sperren werden nur in seltenen Fällen aufgehoben

Fehlerhafte Schiedsrichterentscheidungen in Form von gelben und roten Karten können zudem dazu führen, dass Spieler zu Unrecht für (künftige) Meisterschaftsspiele gesperrt werden. Es kommt nur äußerst selten vor, dass eine rote Karte zu keiner Spielsperre führt. Nach § 13 Nr. 2 RuVO kann nur "bei einem offensichtlichen Irrtum des Schiedsrichters" das sportrechtliche Verfahren eingestellt und von einer Sperre abgesehen werden. Entsprechendes gilt nach § 11 Nr. 2 RuVO im Fall einer gelb-roten Karte.

Offensichtlichkeit bedeutet, dass die Entscheidung des Schiedsrichters ohne jeden Zweifel unrichtig ist. Das soll wiederum dann nicht der Fall sein, wenn der betroffene Spieler nicht nichts gemacht, sondern zumindest eine kleine – wenn auch bei weitem nicht rotwürdige – Unsportlichkeit begangen hat. Dies kann nach der Rechtsprechung des DFB-Sportgerichts ein kleiner Trikotzupfer oder ein Beitrag zur Rudelbildung sein.

Ein Einspruch gegen eine Verwarnung (gelbe Karte) ist nach § 12 RuVO sogar "nur dann zulässig, wenn sich der Schiedsrichter in der Person der Spielerin/des Spielers geirrt hat." Allein die Offensichtlichkeit des Irrtums soll insoweit nicht genügen. Vor diesem Hintergrund blieb etwa die jüngst gegen den Schalker Schlussmann Ralf Fährmann verhängte gelbe Karte aufrechterhalten, obwohl er seinen Gegenspieler Timo Werner (RB Leipzig) nicht einmal berührt hatte, sondern Schiedsrichter Dankert auf dessen Schwalbe hereingefallen war.

Schiedsrichterfehler dürfen keine Folgen nach dem Spiel haben

Diese von den internationalen Fußballverbänden vorgegebenen Grundsätze sind dringend zu überdenken. Der Schutz der Tatsachenentscheidung verlangt es nicht, Fehler des Unparteiischen durch die Verhängung einer Sperre fortzuführen und über das von ihm geleitete Spiel hinaus zu erstrecken. Mit einem "Freispruch" oder auch der Umwandlung einer Roten in eine gelbe Karte wird nicht eine falsche Schiedsrichterentscheidung zurückgenommen oder repariert, sondern ein erneuter, von keinerlei Sachgrund getragener Eingriff in den weiteren Wettbewerb in Form eines (zeitweisen) Berufsverbots verhindert. Es genügt völlig, dass die Entscheidung der Schiedsrichter – wenn sie nicht bis zur Fortsetzung des Spiels geändert worden ist – für den Rest des Spiels Bestand hat.

Zudem würde mit einer großzügigeren Interpretation des "offensichtlichen Irrtums", wie dies etwa in Spanien und England – von der FIFA übrigens unbeanstandet – durchaus vorkommt, verhindert, dass der Profifußball, in dem ein einziger Sieg erhebliche finanzielle Auswirkungen haben kann, ein Inselleben außerhalb des Rechtsstaats führt. Hält im Nachhinein nicht einmal der Schiedsrichter selbst die von ihm verhängte Rote Karte für die richtige Sanktion, ist eine dennoch erfolgende Sperre um der Sperre willen mindestens unfair gegenüber Spieler und Verein.

Allerdings würde es zu weit gehen, wenn künftig jede gelbe oder rote Karte und daraus folgende Strafen bereits deshalb auf den Prüfstand gestellt werden, weil sie der ein oder andere als zu hart empfindet. Das Absehen von einer Sperre darf nur in den Fällen erwogen werden, in denen sich alle Beteiligten – auch dank eindeutiger Fernsehbilder – darüber einig sind, dass eine Fehlentscheidung vorliegt. Die Angst vor einer Flut weiterer Verfahren kann jedenfalls im Profifußball, in dem Geld keine Rolle zu spielen scheint, kein taugliches Argument sein.

Zitiervorschlag

Christian Deckenbrock, Schiedsrichterfehler im Sport: . In: Legal Tribune Online, 21.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21843 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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