Gegen Thilo Sarrazin ist ein neues Verfahren auf Ausschluss aus der SPD eingeleitet worden. Ein solcher Ausschluss wäre wahrscheinlich rechtmäßig, meint Sebastian Roßner.
Weihnachtszeit ist auch Geschenkezeit. Rechtzeitig zu Beginn der letzten Woche vor Heiligabend, beschloss der SPD-Vorstand am 17. Dezember, ein neues Parteiordnungsverfahren gegen Thilo Sarrazin anzustrengen. Dem Verkauf von Thilo Sarrazins neuestem Werk "Feindliche Übernahme", das bereits im Spätsommer gut im Handel gestartet ist, wird die intensive Berichterstattung rund um die Person des Autors gewiss einen neuen Schub verleihen.
Aber die mediale Schützenhilfe des SPD-Bundesvorstands für das neueste Sarrazin-Buch hat auch eine parteienrechtliche Seite. Hier hat sich die sozialdemokratische Führung Mühe gegeben und das neueste Verfahren gegen den ehemaligen rheinland-pfälzischen Staatssekretär, Berliner Innensenator und Bundesbank-Vorstand gründlich vorbereitet: Eine Kommission wurde eingesetzt, um Sarrazins Äußerungen und Veröffentlichungen erneut zu prüfen. Dem Gremium gehörten mit den beiden grandes dames Herta Däubner-Gmelin und Gesine Schwan ebenso prominente wie kompetente Mitglieder an: Schwan ist die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und Däubler-Gmelin ist als erfahrene Anwältin und ehemalige Justizministerin eine versierte Juristin.
Wo endet die Kritik an der eigenen Partei?
Das Verfahren gegen Thilo Sarrazin dreht sich um § 10 Abs. 4 Parteiengesetz (PartG) als normatives Zentralgestirn des Parteiausschlusses. Diese Vorschrift bestimmt, dass ein Mitglied nur dann aus der Partei ausgeschlossen werden kann, wenn es bestimmte Schutzgüter in qualifizierter Weise verletzt und dadurch für die Partei einen schweren Schaden verursacht.
Die Schutzgüter von § 10 Abs. 4 PartG sind Satzung, Grundsätze und Ordnung der Partei. Während der Satzungsbegriff im PartG demjenigen des sonstigen Vereinsrechts entspricht, sind mit "Ordnung" die Verhaltensregeln gemeint, die beachtet werden müssen, damit eine Partei als politische Vereinigung im Wettbewerb funktionieren kann. Dies betrifft etwa die Frage, in welchen Formen die Mitglieder intern miteinander umgehen sollen oder welche Art von öffentlicher Kritik noch mit dem Gebot der Solidarität mit der Partei vereinbar ist.
Ein prominentes Beispiel für einen Ordnungsverstoß bot Wolfgang Clement, zuvor immerhin nordrhein-westfälischer Ministerpräsident und Bundeswirtschaftsminister. Kurz vor der hessischen Landtagswahl 2008 legte er in einem Interview nahe, nicht seine damalige Partei, die SPD zu wählen. Ausgeschlossen wurde Clement zwar nicht, er gab aber schließlich sein Parteibuch zurück.
Die Grundsätze einer Partei sind gleichsam der politische Katechismus einer Partei, der sich im Wesentlichen aus dem Parteiprogramm und anderen programmatischen Beschlüssen der zuständigen Parteiorgane ableiten lässt.
Der damalige Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann etwa wurde 2004 wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Partei aus der CDU ausgeschlossen. Zur Last gelegt wurde ihm, in einer Rede mit antisemitischem Inhalt gegen den CDU-Grundsatz verstoßen zu haben, dass jegliches rassistische Gedankengut abzulehnen sei.
Sarrazins Buch sprengt wohl den Rahmen
Auch Thilo Sarrazin wird ein Verstoß gegen die Grundsätze seiner Partei, der SPD, vorgeworfen. Grundsätze sind häufig nicht ausdrücklich formuliert, sondern müssen durch Auslegung des programmatischen Materials der Partei ermittelt werden. Hier zeigt sich, dass die SPD-Spitze die Untersuchungskommission in der causa Sarrazin gut besetzt hat, denn wer könnte eine größere Kennerschaft in den Glaubenssätzen der Partei für sich reklamieren als die Chefin der Grundwertekommission Gesine Schwan? Und Herta Däubler-Gmelin ist in diffizilen Fragen der Auslegung gewiss beschlagen und überzeugend. Nach den Berichten in der Presse hat die Kommission einen Verstoß Thilo Sarrazins gegen die Grundsätze der SPD angenommen.
Aber nicht jeder Verstoß gegen Satzung, Ordnung oder Grundsätze wird von § 10 Abs. 4 PartG erfasst. Satzungsverstöße müssen dafür vorsätzlich erfolgen, Verstöße gegen Ordnung oder Grundsätze hingegen erheblich sein. Für die Frage der Erheblichkeit kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an: Hat ein prominentes, politisch erfahrenes Parteimitglied gehandelt oder ein unbekannter Neuling in der Partei? Erfolgte eine Äußerung in der Öffentlichkeit oder im privaten Kreis? Je prominenter ein Mitglied ist und je mehr eine Äußerung auf öffentliche Wirkung zielt, desto sorgfältiger muss sich der jeweilige Akteur verhalten.
Falls Thilo Sarrazin gegen die Grundsätze der Partei verstoßen hat, dürfte der Verstoß, an diesen Maßstäben gemessen, auch erheblich sein. Denn ein Mitglied darf zwar durchaus versuchen, die Grundsätze der Partei zu ändern. Dies muss aber innerhalb des innerparteilichen Prozesses der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung oder jedenfalls mit engem Bezug auf diese Prozesse geschehen. Eine Sarrazin’sche Parteitagsrede, auf der er für eine Neuausrichtung der SPD wirbt, würde ebenso wenig einen erheblichen Grundsatzverstoß darstellen, wie ein sachlich gehaltenes Presse- oder Rundfunkinterview, in dem er erläutert, weshalb seines Erachtens die Partei von ihrer alten Linie abrücken sollte. Sarrazins Buch aber sprengt wohl diesen Rahmen.
Schließlich muss, damit ein Parteiausschluss ausgesprochen werden kann, der qualifizierte Verstoß gegen die parteiinternen Normen bei der Partei einen schweren Schaden ausgelöst haben. Die Crux dabei ist, dass es meistens nicht um materielle Schäden geht, die sich relativ leicht feststellen lassen. So könnten zwar etwa die Satzungsverstöße, die vermutlich mit der Spendenaffäre rund um Alice Weidel verbunden sind, einen erheblichen materiellen Schaden für die AfD auslösen.
Wie kann man den parteipolitischen Schaden bestimmen?
Meistens geht es in Parteiausschlussverfahren aber um "politische Schäden", etwa darum, dass der innerparteiliche Zusammenhalt oder das öffentliche Ansehen der Partei gemindert ist. Man kann diese verschiedenen Fallgruppen auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ein politischer Schaden besteht darin, dass die Fähigkeit der Partei, sich politisch durchzusetzen, beeinträchtigt ist. Da sich ein solcher, für Parteien typischer Schaden nicht messen lässt, müssen plausible Schätzungen ausreichen, die sich auf Erfahrungssätze stützen können.
Auch an diesem Tatbestandsmerkmal gemessen, stehen die Chancen auf einen Parteiausschluss von Thilo Sarrazin nicht schlecht: Falls ein prominentes Parteimitglied sich mit großer Wirkung in der Öffentlichkeit gegen Grundsätze der Partei wendet, ist die Annahme plausibel, dass dies den Eindruck erzeugt, es fehle in der Partei am Konsens in grundlegenden Fragen. Sarrazins Einwand, die SPD hätte sich einfach beizeiten an seinen Thesen orientieren müssen, um so die erheblichen Einbußen an Wählerstimmen zu vermeiden, zieht nicht.
Zum einen ist die Aussage bereits tatsächlich höchst unsicher. Vor allem aber verkennt sie, dass eine Partei auch eine Wertegemeinschaft ist, die vor dem Hintergrund und unter der Bedingung dieser gemeinsamen Grundüberzeugungen Politik treibt. Für die Frage, ob ein Mitglied sich parteischädigend verhalten hat, kann die Partei daher nicht darauf verwiesen werden, sie hätte nur ihre Grundüberzeugungen preisgeben müssen, um mehr Wählerstimmen zu erhalten.
Der lange Weg bis zu einem endgültigen Ausschluss
Das Verfahren eines Parteiausschlusses ist aufwendig: Über den Antrag auf Parteiausschluss entscheiden nach § 10 Abs. 5 PartG die Parteischiedsgerichte, in der SPD als Schiedskommissionen bezeichnet, welche besondere, weisungsunabhängige Parteiorgane darstellen. Erst sobald dieser parteiinterne Rechtsweg durchlaufen ist, kann Thilo Sarrazin die ordentliche Gerichtsbarkeit des Staates anrufen, um sich gegen einen eventuellen Parteiausschluss zu wehren.
Dabei beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle eines Parteiausschlusses im Wesentlichen darauf, ob die Tatsachenfeststellungen des Parteischiedsgerichts sachgerecht getroffen wurden, ob die gesetzlichen und satzungsmäßigen Verfahren eingehalten wurden, sowie darauf, ob der Ausschluss nicht im Übrigen satzungs- oder gesetzeswidrig oder grob unbillig war. Die staatlichen Gerichte prüfen hingegen nicht, ob die Parteischiedsgerichte richtig unter die parteiinternen Normen subsumiert haben, also etwa, ob Thilo Sarrazins Verhalten gegen die Grundsätze der SPD verstoßen hat.
Beschreitet Thilo Sarrazin den vollständigen Rechtsweg, ist es noch lange hin bis zu einer endgültigen Entscheidung über seinen Ausschluss aus der SPD.
Dr. Sebastian Roßner, M.A., arbeitet als Rechtsanwalt bei der Kanzlei LLR in Köln. Zuvor war er längere Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Düsseldorf tätig.
Neues SPD-Verfahren gegen Thilo Sarrazin: . In: Legal Tribune Online, 19.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32835 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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