Autsch. Aua, verdammt, das ist ja… aargnmpfl. So oder ähnlich kommentiert die innere Stimme des Lesers die Lektüre eines unlängst in der Zeitschrift für Schadensrecht erschienenen Beitrags. Doch der Text, der sich der unterschiedlichen Höhe von Schmerzensgeld für Männer und Frauen widmet, ist nicht nur für den Gruselfaktor lesenswert.
Abgesehen von der Genugtuungsfunktion, die eher selten und nicht für die Zwecke dieses Beitrags relevant ist, geht es beim Schmerzensgeld vor allem um eines: Den Ausgleich der erlittenen und zu erwartenden Leiden. Das ist, naturgemäß, eine etwas vage Angelegenheit, denn Leid lässt sich nicht quantifizieren, schon das eigene nicht, umso weniger das eines anderen. Da die Frage aber nun einmal entschieden werden muss, und zwar tagein, tagaus in zahllosen Gerichtssälen, behilft man sich, so gut es eben geht, mit Schmerzensgeldtabellen.
Diese oft voluminösen Werke unternehmen den Versuch der Verobjektivierung, indem sie die Beträge aufzählen, die von Gerichten in der Vergangenheit für bestimmte Verletzungen bewilligt wurden. Rechtsanwalt Hans-Berndt Ziegler und der Jurastudent Özhan Cayukli haben die Tabellen speziell mit Blick auf geschlechtsspezifische Verletzungen abgeklopft, und dabei zwei Gedanken entwickelt, die Beachtung verdienen.
Urteilsbegründungen: Masse statt Klasse
Der eine ist allgemeiner Natur und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn eine bestimmte Entschädigungshöhe argumentativ nicht sinnvoll begründet werden kann, dann kann auch ein Verweis auf eine Tabelle nicht weiterhelfen, wenn diese ihrerseits nur ebenso mangelhaft begründete Urteile enthält. Die Zahl der sich gegenseitig zitierenden Schmerzensgeldentscheidungen mag zwar stetig wachsen, doch das juristische Gerüst gewinnt durch die hinzukommenden Verstrebungen nicht an Tragkraft, weil ihm jedes Fundament fehlt.
Das mag furchtbar tiefschürfend und fast schon philosophisch klingen, gewinnt aber schnell an Plastizität, wenn man sich vor Augen führt, wie weit die von den Gerichten gewährten Entschädigungssummen sowohl untereinander als auch im Verhältnis zum Rechtsempfinden des Lesers auseinanderklaffen. Beispiel gefällig?
Der Verlust eines Hodens wurde mehrfach mit 10.000 Euro beziffert, der Verlust der männlichen Zeugungsfähigkeit mit 20.000. Nun ist es zwar bekanntlich so, dass der Mann zwei Hoden hat. Ob eine schlichte Verdopplung der Summe der funktionalen Einbuße allerdings adäquat Rechnung trägt, darf man bezweifeln. Das ist als Beispiel natürlich etwas gemogelt, denn die Sachverhalte unterscheiden sich, wie überhaupt fast immer in Schmerzensgeldentscheidungen, in vielen Details, was die Vergleichbarkeit zumindest erschwert, oft unmöglich macht.
Doch auch, wenn man die Diskussion vom Relativen ins Absolute verlagert, lässt sich so manches fragwürdige Urteil ausmachen. Ist ein "Verlust der Zeugungsfähigkeit verbunden mit Inkontinenz und Mastdarmentleerungsstörungen" mit 10.000 Euro wirklich adäquat entschädigt? Selbst die 180.000 Euro, die von einem anderen Gericht auf die gleiche Verletzung hin gewährt wurden, erscheinen eher knauserig bemessen. Man muss kein Befürworter amerikanischer Schadensersatz-Exzesse sein, um dem Verlust solch zentraler Körperfunktionen einen höheren Wert beizumessen.
Keine Gleichberechtigung bei der Entschädigung
Derartig grundsätzliche Kritik verhallt, natürlich, ungehört. Von größerer praktischer Relevanz ist daher die zweite Beobachtung der Autoren, dass nämlich Männern und Frauen für im Wesentlichen vergleichbare Schäden deutlich auseinanderklaffende Summen zugebilligt werden. So erhielt etwa ein Mann für eine Narbe auf der Stirn 750 Euro, eine Frau für eine solche am Unterarm hingegen 2.000. In einem anderen Urteil wurde zur Begründung der Schmerzensgeldhöhe sogar ausdrücklich angeführt, dass Wertschätzung und Ansehen junger Frauen eben wesentlich von ihrem äußeren Erscheinungsbild abhingen.
Wem das bereits nach überholten Geschlechterklischees klingt, den wird die nächste Feststellung umso mehr erzürnen. Geht es nämlich nicht (nur) um kosmetische Schäden, sondern um eine unmittelbare Beeinträchtigung der Sexualität, ziehen Männer bei den Schadenssummen deutlich davon. So wurde der schon erwähnte Verlust eines Hodens mit Beträgen zwischen 10.000 und 18.000 Euro, der Verlust eines Eileiters nur mit 2.556,46 bis zu 15.000 Euro entschädigt. Deutlich wird die Ungleichbehandlung auch bei den Entschädigungen für einen vollständigen Verlust der Zeugungsfähigkeit, welche bei Männern mit Summen zwischen 20.000 und 60.000 Euro spürbar höher ausfielen als bei Frauen mit 2.500 bis 50.000 Euro.
Wenn man unterstellt, dass die – überschaubar kleine – von Ziegler und Cayukli untersuchte Stichprobe repräsentativ ist, stellt sich die Frage nach den Ursachen der Ungleichbehandlung. "Möglicherweise sind dafür patriarchalische Altlasten in der Richterschaft verantwortlich", erläutert Ziegler auf Nachfrage. "Es sind zwar heutzutage etwas mehr Frauen als Männer im Richteramt tätig, aber die Urteile aus den Schadensersatztabellen datieren Jahre und Jahrzehnte zurück. Gut möglich also, dass sich Tendenzen, die aus einer männerdominierten Zeit stammen, auf diese Weise fortsetzen."
Der Königsweg zur Lösung nicht nur des geschlechterspezifischen Problems scheint unklar. Ziegler für seinen Teil vertritt einen eher revolutionär anmutenden Ansatz: "Ich fände es sinnvoll, sich beim Schmerzensgeld ein wenig am strafrechtlichen System der Tagessatzhöhe zu orientieren. Damit meine ich nicht den etwaigen Gewinnausfall, der ja als regulärer, wirtschaftlicher Schaden zu erstatten ist, sondern einen Aufschlag auf das Schmerzensgeld, der den entgangenen Genuss und die Lebensfreude auch anhand des Einkommens des Geschädigten kompensiert."
Gehälter sind zwar auch nicht immer gerecht verteilt, aber zumindest hat man darauf mehr Einfluss als aufs eigene Geschlecht.
Constantin Baron van Lijnden, Schmerzensgeld für Männer und Frauen: . In: Legal Tribune Online, 09.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9517 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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