Russland greift Europa mit hybrider Kriegsführung an. Ob in Cyberangriffen, Spionage- und Sabotageakten schon eine Aggression im Rechtssinne liegt und welche Spielräume es für Verteidigungsreaktionen gibt, beleuchtet Patrick Heinemann.
DRussland führt Krieg. Gegen die Ukraine. Aber auch gegen uns? Lange drehten sich die Diskussionen hierzulande darum, ob Deutschland mit dieser oder jener Unterstützungsleistung Kriegspartei werden könnte und Putin uns dann angreifen dürfte. Dabei ist das eine Nebelkerze, weil es nach dem modernen Völkerrecht vielmehr darauf ankommt, dass Russland der Aggressor ist und andere Staaten der Ukraine bei ihrer legitimen Selbstverteidigung bis zur Grenze der Erforderlichkeit beistehen können – und die ist noch lange nicht erreicht. Seit einigen Monaten beobachten nicht mehr nur die westlichen Nachrichtendienste, sondern die breite Öffentlichkeit eine wachsende Zahl mutmaßlich russischer Sabatogehandlungen insbesondere gegen europäische Infrastrukturen. Könnte es sein, dass sich Deutschland und Europa längst einem russischen Angriff ausgesetzt sehen? Ab welchem Punkt haben wir es rechtlich gesehen mit einer Aggression zu tun?
Der hybride Krieg: eine Politik der tausend Nadelstiche
Viel spricht dafür, dass Putin eine Sicherheitspolitik der tausend Nadelstiche praktiziert, indem er durch wohldosierte Eskalation die Grenzen des Möglichen schleichend verschiebt und glaubwürdige Reaktionen des Westens insbesondere durch nukleare Drohungen unterbindet. Sicherheitspolitische Analysten wie Minna Ålander vom Finnish Institute of International Affairs weisen auf die Probleme westlicher Demokratien und ihrer Rechtssysteme hin, auf Aggressionen im Graubereich zwischen Frieden und offenen bewaffnetem Konflikt angemessen zu reagieren.
Russischer Staatsterrorismus in Deutschland
Wendet ein Staat Mischformen von militärischer und nicht-militärischer Gewalt, von Einflussnahme, Hackerangriffen und Sabotage flexibel und nicht selten verdeckt an, spricht man von hybrider Kriegsführung. So hat auch der hybride Krieg, den der Kreml gegen das freie Europa führt, viele Gesichter. Dabei sind Cyber-Angriffe wie etwa gegen den Bundestag im Jahr 2015, das Verbreiten von Desinformation in sozialen Netzwerken oder aber das Unterwandern von Parteien und gesellschaftlichen Netzwerken Maßnahmen, die auf den ersten Blick noch milde wirken, aber eben auf Dauer eine stark zersetzende Wirkung entfalten. Dass Russland auch nicht davor zurückschreckt, unliebsame Personen, Dissidenten, politische Gegner und vermeintliche Verräter im Ausland durch seine Dienste töten zu lassen, sollte inzwischen bekannt sein. Zahlreich sind die Beispiele. Und auch in Deutschland schreckt der Kreml nicht vor Attentaten zurück. Das Berliner Kammergericht etwa bezeichnete im Dezember 2021 die Ermordung des Tschetschenen Selimchan Changoschwili im August 2019 durch den FSB ausdrücklich als “Staatsterrorismus”.
Russische Spionage und Sabotage im Ostseeraum
Der Kreml nimmt auch unsere kritischen Infrastrukturen in den Blick: Seit etlichen Monaten stört Russland mit einem Sender im Raum Kaliningrad, dem "Baltic Jammer", die GPS-Navigation der zivilen Luftfahrt im Baltikum. Im September dieses Jahres zeigte eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung ausführlich, in welchem Ausmaß inzwischen russische Spionageschiffe im Baltikum Unterseekabel und -leitungen ausspähen – mutmaßlich mit dem Ziel, diese zerstören zu können, um so etwa Strom-, Gas- und Internetverbindungen lahmzulegen, auf deren Funktionieren unsere modernen Gesellschaften angewiesen sind. Teils sollen die russischen Kräfte dabei auch in deutsche Hoheitsgewässer eingedrungen sein, etwa im nordöstlich vor Rügen gelegenen Windpark Arkona.
Deutsche Nachrichtendienste warnen eindringlich
Mitte Oktober dann, im Rahmen einer Anhörung des parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, warnten die Spitzen der drei deutschen Nachrichtendienste BND, MAD und BfV in einem historisch einmaligen Appell die deutsche Öffentlichkeit vor einer stetig wachsenden Bedrohung durch Russland. Sie berichteten von besorgniserregenden Ausspähversuchen gegen die Bundeswehr und Einflussoperationen russischer Geheimdienste. Diese Dienste agieren demnach als Speerspitze im hybriden Kampf gegen den Westen mit einem staatlichen Auftrag, mit allen Mitteln und ohne rechtliche Beschränkungen oder Skrupel. Die russischen Streitkräfte, so der damalige Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang, seien bis Ende der 2020er Jahre bereit, die NATO anzugreifen. Bis dahin werde Putin “rote Linien des Westens austesten und die Konfrontation weiter eskalieren”. Es gehe ihm darum, bereits vor einer offenen Auseinandersetzung die Beistandsbereitschaft zu untergraben und das westliche Bündnis möglichst schon vor einem Angriff zu spalten.
Versuchte Anschläge auf den Luftverkehr
Etwa zur gleichen Zeit tauchten weitere Details zu einem versuchten Brandanschlag im Juli dieses Jahres gegen zwei DHL-Flugzeuge in Leipzig sowie in Birmingham auf, für die westliche Dienste mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Russland verantwortlich machen. Demnach sei es lediglich Verzögerungen bei der Abfertigung (und damit bloßem Zufall) zu verdanken gewesen, dass die unentdeckt gebliebenen Brandsätze noch am Boden und nicht bereits in der Luft umsetzten, was mutmaßlich den Absturz und im schlimmsten Falle den Tod nicht nur der Besatzung, sondern einer unüberschaubaren Vielzahl von Menschen bedeutet hätte.
Angriffe gegen Unterseeverbindungen
Und besonders in den letzten Tagen, nachdem US-Präsident Biden der Ukraine gestattete, Waffensysteme mit größerer Reichweite auch gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen, sah sich Europa einer Vielzahl von Sabotageakten ausgesetzt, hinter denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ebenfalls Russland stecken könnte: Die British Airways klagte über einen großen Ausfall ihrer IT, das große norwegische Nordsee-Ölfeld Johan Sverdrup kämpfte mit einem Stromausfall, und in der Ostsee wurden gleich zwei Unterseekabel zwischen Finnland und Deutschland (C-Lion1) sowie zwischen Schweden und Litauen beschädigt. Bereits im Oktober 2023 war der Balticconnector, eine Gaspipeline zwischen Finnland und Estland, mutmaßlich durch den unter chinesischer Flagge fahrenden Frachter Newnew Polar Bear beschädigt worden, wohl indem das Schiff mit einem fallen gelassenen Anker über die Verbindung fuhr. Auch diesmal wird ein chinesisches Schiff verdächtigt, das dem Kreml als Werkzeug gedient haben könnte: So fuhr die Yi Peng 3 – aus dem russischen Ostseehafen Ust-Luga kommend – in internationalen Gewässern jeweils zu Zeitpunkten über die beiden Kabelverbindungen, als dort Beschädigungen festgestellt wurden. Drohnenaufnahmen des dänischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks DR zeigen, dass der Anker des Schiffs auffällig verbogen ist.
Wann ist die Schwelle zum Verteidigungsfall erreicht
Zu welchen rechtlichen und tatsächlichen Konsequenzen führen nun diese Nadelstiche Russlands? Ist damit die Schwelle zur Aggression im Rechtsinne gegen europäische Staaten überschritten. Der angegriffene Staat dürfte sich dann nach Art. 51 UN-Charta verteidigen und dabei gegen Russland auch militärische Gewalt anwenden.
Wenn eine Aggression im völkerrechtlichen Sinne gegen Deutschland vorliegt, geht die überwiegende Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehre auch von einem Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt im Sinne von Art. 115a Abs. 1 Satz 1 GG aus. Ein solcher Angriff ist Voraussetzung für die Feststellung des Verteidigungsfalls durch den Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats. Diese Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 115a Abs. 1 Satz 2 GG). Sind die zuständigen Verfassungsorgane nicht handlungsfähig, gilt die Feststellung des Verteidigungsfalls im Zeitpunkt des Angriffsbeginns als getroffen (Art. 115a Abs. 4 Satz 1 GG).
Der Verteidigungsfall begründet den extremen äußeren Notstand der Bundesrepublik; hier geht es um die existentielle Behauptung des demokratischen Gemeinwesens gegenüber äußeren Feinden. Er führt zu einer Machtkonzentration in der Bundeszentralgewalt und führt zur Anwendung bestimmter Notstandsgesetze, die nur in diesem Fall greifen. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Feststellung des Verteidigungsfalles beschränkt sich im Kern auf die Einhaltung der staatsorganisationsrechtlichen Verfahrensschritte; eine materielle Kontrolle, ob ein Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt tatsächlich vorliegt PPs, soll nach überwiegender Auffassung mit Ausnahme etwaiger Missbrauchsfälle nicht stattfinden.
Beistandsverpflichtungen in NATO und EU
Die Feststellung einer Aggression gegen das Bundesgebiet hat völkerrechtlich auch Bedeutung für die Systeme kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG), denen sich die Bundesrepublik angeschlossen hat. Nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags wird ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere der Mitgliedstaaten in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen. Der Bündnisfall begründet zwar die Pflicht der NATO-Mitgliedstaaten, sich gegenseitig Beistand zu leisten, was aber nicht notwendig in einen Automatismus führt und insbesondere keine zwingende Pflicht zur militärischen Hilfeleistung begründet. Insofern ist die NATO ein sicherheitspolitisches Bündnis, das im Wesentlichen von der Glaubwürdigkeit dieses Versprechens lebt.
Eine zumindest rechtlich strengere Beistandsverpflichtung begründet demgegenüber Art. 42 Abs. 7 Satz 1 EUV, wonach im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats die anderen Mitgliedstaaten ihm – im Einklang mit Art. 51 UN-Charta – alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden.
Aggressionsbegriff der UN
Doch wann liegt eine Aggression im Rechtssinne vor? Nach dem völkerrechtlichen Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta haben die Staaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen. Die UN-Generalversammlung fasste im Jahr 1974 eine nähere Definition dieses Aggressionsbegriffs und erklärte insbesondere bestimmte Einzelhandlungen zu Angriffshandlungen, wie etwa die Invasion oder der Angriff der Streitkräfte eines Staates auf das Hoheitsgebiet eines anderen Staates, den Angriff der Streitkräfte eines Staates auf die Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder auf die See- und Luftflotte eines anderen Staates oder das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat ausführen (wie etwa die russischen “grünen Männchen”, die im Februar 2014 auf der ukrainischen Krim auftauchten), aber eben auch die Beschießung oder Bombardierung des Hoheitsgebietes eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates.
Gewissermaßen als Auffangtatbestand gilt der Einsatz von Waffen jeder Art durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates. Waffen in diesem Sinne sind zwar zunächst einmal Kriegswaffen jedweder Art, allerdings erschöpft sich der Begriff darin nicht. Richtigerweise wird man unabhängig vom konkreten Angriffsmittel auf die Wirkung abstellen müssen, die eine gewisse Erheblichkeitsschwelle erreichen muss, um eine Aggression darzustellen. Hier wird zum Teil auf die psychische Zwangswirkung oder aber die Auswirkungen für das öffentliche Leben abgestellt. So wurde etwa die Zweckentfremdung von Passagiermaschinen zu Waffen bei den Anschlägen des 11. September 2001 gemeinhin als Angriff angesehen.
Bloße Grenzscharmützel, Verletzungen des Hoheitsgebiets etwa durch Spionageflüge, Spione oder Sabotagetrupps stellen dagegen ebenso wenig einen Angriff dar wie versehentliche Schädigungen. Anders sieht dies allerdings aus, wenn die Sabotagehandlungen einen solchen Umfang erreichen, dass ihre (potentiellen) Auswirkungen auf das öffentliche Leben sowie die politische Willensbildung gravierend sind. Naturgemäß umstritten ist ebenfalls, ob und gegebenenfalls ab welcher Schwelle Cyberangriffe eine Aggression im völkerrechtlichen Sinne darstellen könne.
Richtigerweise wird man aktuell zumindest noch nicht davon ausgehen können, dass die hybride Kriegsführung Russlands gegen die einzelne EU-Staaten völkerrechtlich die Schwelle einer Aggression erreicht. Bislang hat Russland noch keinen EU-Staat mit Waffen im engeren Sinne angegriffen. Ebenso wenig dürften die russischen Stör- und Sabotageaktionen in ihrer Intensität und Wirkung bislang eine Schwelle erreichen, die mit einem bewaffneten Angriff gleichzusetzen wäre. Das wäre zum Beispiel anzunehmen, wenn größere Teile der Bevölkerung Störungen bei ihrer Versorgung mit Strom, Gas oder etwa Internet und Telefonie spüren würden. Bislang aber hat man vielmehr den Eindruck, dass sich weite Teile der Bevölkerung für die russischen Aktionen noch nicht einmal besonders interessieren, so dass auch die Auswirkungen auf die deutsche Politik bislang eher überschaubar erscheinen.
Zwar mögen Russlands hybride Angriffe noch keine Aggression im Sinne des Völkerrechts markieren. Richtig ist aber, dass sich die Ereignisse dieser Schwelle mehr und mehr annähern. Gleichwohl dürfte Moskau voraussichtlich zumindest noch für eine Weile ein Interesse daran haben, mit seinen Handlungen unter dieser Schwelle zu bleiben, um möglichst lange ungestört auf seine langfristigen Ziele hinarbeiten zu können.
Art. 80a GG: Verfassung ermöglicht flexible Reaktion
Umso mehr könnten und sollten die Vorschriften Art. 80a GG näher in den Blick rücken. Die Verfassung sieht darin mit dem Zustimmungsfall (Art. 80a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG), dem Spannungsfall (Art. 80a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG) sowie dem Bündnisfall (Art. 80a Abs. 3 GG) ein abgestuftes System vor, mit dem der Staat normativ auf Bedrohungslagen im Vorfeld zum Verteidigungsfall reagieren kann. Sinn und Zweck dieser Vorschriften ist es, das einfachgesetzliche Notstandsrecht stufenweise bis hin zum Verteidigungsfall freizugeben, um – so die Kommentierung von Otto Depenheuer – eine “flexible Anpassung der innerstaatlichen Rechtsordnung an die Notwendigkeiten umfassender Vorsorge für Sicherheit und Versorgung der Zivilbevölkerung” zu ermöglichen. Zum einfachen Notstandsrecht gehören Stand jetzt unter anderem die allgemeine Wehrpflicht (§ 2 WPflG), aber vor allem auch die Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze, die weitreichende staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ermöglichen, um sowohl die Versorgung der Bevölkerung, aber auch der Streitkräfte mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen. In einem ersten Schritt können einzelne dieser Instrumente, die dem Spannungsfall vorbehalten sind, mit Zustimmung des Bundestags separat angewandt werden, was als Zustimmungsfall bezeichnet wird. Depenheuer sieht in dem abgestuften Modell des Art. 80a GG ein "spezifisch wehrverfassungsrechtliches Verhältnismäßigkeitsprinzip", wonach für jede reale Gefahr “normativ eine seinem unterschiedlichen Bedrohungspotential entsprechende verhältnismäßige Antwort bereitstehen” soll.
Der Verfassungsgesetzgeber hat im Unterschied zum Verteidigungsfall davon abgesehen, Tatbestandsvoraussetzungen für die einzelnen Stufen und dementsprechend die flexible Freigabe des Notstandsrechts zu formulieren. Stattdessen überantwortet Art. 80a GG diese Entscheidungen der politischen Willensbildung vor allem des Bundestags, der den Zustimmungs- sowie den Spannungsfall nur mit Zweidrittelmehrheit feststellen kann (Art. 80a Abs. 1 Satz 2 GG) und jederzeit berechtigt ist, die Aufhebung von Maßnahmen aufgrund des Zustimmungs-, Spannungs- und Verteidigungsfalls zu verlangen (Art. 80a Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 GG).
Hat Europa den Contest of Wills schon verloren?
Diese Konzeption des Art. 80a GG weist damit zugleich auf das eigentliche Problem hin, dass vor allem in Deutschland den Umgang mit Russlands hybrider Kriegsführung markieren dürfte: Zwar mag es im Notstandsrecht im Einzelnen Verbesserungsbedarf geben. Viel spricht aber dafür, dass es vor allem in weiten Teilen von Mittel- und Westeuropa am politischen Willen mangelt, die zunehmenden russischen Angriffe auf Europa offen zu benennen und ihnen ernsthaft ins Auge zu sehen. Versteht man den Krieg im Sinne von Clausewitz vor allem als einen Widerstreit entgegengesetzter Willen, ist das für viele demokratischen Gesellschaften Europas kein gutes Vorzeichen.
Handlungsspielräume müssen endlich konsequent genutzt werden: Warum ließ die Bundeswehr es lange Zeit zu, dass Drohnen über ihre militärischen Sicherheitsbereich flogen, obwohl das UZwGBw eine hinreichende Rechtsgrundlage für ihren Abschuss bietet, wie das Verteidigungsministerium kürzlich gegenüber dem Bundestag einräumte? Bei Personen, die mit dem Aggressor Russland zusammenarbeiten, wäre zu prüfen, ob sie nicht die äußere Sicherheit der Bundesrepublik gefährden und ihnen daher der Pass (nicht die Staatsangehörigkeit!) zu entziehen ist (§§ 7 Abs. 1 Nr. 1, 8 PassG). Weiter ist zu prüfen, ob Parteien und Vereinigungen, die mit dem Kreml kooperieren, als verfassungsfeindlich einzustufen sind, nicht nur weil Art. 26 Abs. 1 GG den Angriffskrieg ächtet, sondern weil Russland inzwischen ganz offen die Sicherheit der Bundesrepublik in Frage stellt.
Wo die vorhandenen Instrumente nicht ausreichen, um eine effektive Gesamtverteidigung Deutschlands sicherzustellen, sollte der Gesetzgeber Verbesserungen überlegen: Kann unter den Bedingungen der jetzigen Finanzverfassung – insbesondere der Schuldenbremse – der tatsächliche Bedarf der Streitkräfte gedeckt werden? Auch die allgemeine Wehrpflicht sollten wir nicht in erster Linie unter gesellschafts-, sondern vor allem verteidigungspolitischen Gesichtspunkten diskutieren: Ein Pflichtwehrdienst, der erst im Spannungsfall greift, könnte zu spät kommen, weil er seinen wesentlichen Zweck, Personalreserven zu bilden, nicht mehr erfüllen kann. Und auch das Straf- wie auch das Gefahrenabwehrrecht müssen endlich effektive Antworten auf den Eintrag zersetzender Desinformation in unsere liberale Gesellschaft finden, die mit der Meinungsfreiheit vereinbar sind. Diese Liste ließe sich ohne Weiteres fortsetzen.
Man muss nicht so weit gehen wie Carl Schmitt und die Grundunterscheidung von Freund und Feind zum konstitutiven Merkmal alles Politischen erklären. Doch Politik wie Rechtswissenschaft täten dieser Tage gut daran, den äußeren Feind immerhin zu benennen und ihn seit Langem – so schwer es fällt – erstmals wieder zu denken. There is no glory in prevention" sagte man schon in der Corona-Krise. Aber die Herausforderung, die Russland darstellt, einfach zu verdrängen und nicht zu handeln, dürfte – wie beim Klima – die schlechteste Lösung sein.
Russlands Angriff auf Europa: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55940 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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