Russland behauptet die Annektion ukrainischer Gebiete. Die Eroberung ist völkerrechtlich unwirksam. Doch die Gefahr neuer Kriegsverbrechen in der Ukraine und die von Menschenrechtsverletzungen in Russland ist real, sagt Simon Gauseweg.
Etwa 94 Prozent der Stimmberechtigten sollen sich in der selbsternannten Luhansker Volksrepublik am Scheinreferendum über den Anschluss an Russland beteiligt haben. Die Zustimmung habe demnach sogar ca. 98 Prozent betragen. Das liegt nur knapp unter den Zahlen, die der Spiegel im Februar 1947 über die Wahl zu den Obersten Sowjets der Sowjetunion meldete. Stalin brachte es bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 98 Prozent sogar auf über 99 Prozent der Stimmen.
Wladimir Putin schickt sich also nicht nur an, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wiederherzustellen. Der Mann, der sich als Geschichtsvollzieher der eigenen Vorstellung einer Ukraine von Russlands Gnaden versteht, knüpft anscheinend auch an das Demokratieverständnis der UdSSR an. Im kommunistischen Riesenreich, dessen Untergang Putin einst als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hatte, zählte auch ein "Ergebenheitsgruß für Stalin" (Spiegel) anstatt eines Kreuzes als Ja-Stimme. In den vier ukrainischen Gebieten sollte dazu gar ein gänzlich leerer Stimmzettel ausreichen.
"Soweit, so völkerrechtswidrig", könnte man sagen, und achselzuckend zum Tagesgeschäft übergehen. Schon das zur Annexion führende Scheinreferendum 2014 auf der Krim war völkerrechtswidrig. Hinsichtlich der nun folgenden Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja gilt nichts anderes. Völkerrechtlich sind die Gebiete noch immer genauso Teil der Ukraine wie vor einer Woche oder einem Jahr.
Rituale zur Veränderung von Russlands Rechtssicht
Was sich dagegen ändert, ist die russische Rechtssicht auf die Dinge. Mit feierlicher Zeremonie im Kreml gehören die Gebiete in den Augen Russlands nicht mehr zur Ukraine, sondern sind russischer Boden. Mit der Konsequenz, dass sie nun entsprechend der russischen Nukleardoktrin auch mit Atomwaffen "verteidigt" werden können sollen. Zuletzt am 21. September, in seiner Rede zur "Teilmobilisierung" in Russland, hatte Putin mit dem Einsatz atomarer Waffen gedroht und sich genötigt gesehen, hinzuzufügen: "Dies ist kein Bluff."
Eine rechtliche Diskussion dieser Möglichkeit müsste sich vor allem mit dem sog. "Nuklearwaffengutachten" des Internationalen Gerichtshofs befassen. Dieser verkündete im Jahr 1996, dass der Einsatz von Nuklearwaffen im Allgemeinen gegen das im Konflikt anwendbare Völkerrecht, insbesondere die Prinzipien des humanitären Völkerrechts, verstößt.
Nicht einmal für "einen extremen Umstand der Selbstverteidigung, in dem das schiere Überleben eines Staates auf dem Spiel steht" konnte das Gericht eine definitive Erlaubnis – aber auch kein definitives Verbot – erkennen.
Keine Rechtfertigung einer nuklearen Eskalation
Von dieser Schwelle wäre Russland bei weiteren Versuchen der Rückeroberung besetzter Gebiete wohl weit entfernt. Doch darauf kommt es nicht an. Die Überlegung, dass die Referenden etwas an der Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation änderten, folgen, um bekannte Intellektuelle zu zitieren, "einem zweifachen Irrtum": Zum einen dem, dass die russische Führung ein von außen (also "dem Westen") geliefertes Motiv "zu einem gegebenenfalls (sic!) verbrecherischen Handeln" bräuchte. Und zum anderen dem, dass das Recht auch für einen mehrfachen, flagranten Rechtsbrecher zwingend eine handlungsleitende Kategorie sei.
Mit anderen Worten: Wer einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun bricht und mit Annexionen erneut gegen das Völkerrecht verstößt, lässt sich bei Überlegungen über den Einsatz von Atomwaffen nicht plötzlich vom Völkerrecht zurückhalten. Und wessen Rechtsbruch Erfolg hat, der kehrt nicht deswegen auf den Pfad der Tugend zurück.
Die Referenden dienen allenfalls der russischen Propaganda, die dem rechtsstaatlichen Ausland vermeintliche Rechtfertigungsgründe vorspiegeln und im Innern das Narrativ angeblicher Verteidigung aufrecht erhalten will.
Die Nukleardebatte verstellt den Blick auf andere Gefahren
Während Expertinnen und Experten wie Claudia Major (Stiftung Wissenschaft und Politik) oder Carlo Masala (Universität der Bundeswehr in München) in den vergangenen Tagen keine Gefahrsteigerung in Bezug auf Nuklearwaffen sahen, zeichnet sich mit dem Annexionsversuch zudem ein anderes Risiko ab: die Ausweitung der Mobilisierung.
Der Annexionsversuch bedeutet, dass Russland die besetzten Oblasten nun als eigenes Staatsgebiet ansieht. Russische Pässe haben die Besatzer dort bereits seit Monaten ausgegeben. Im Interview mit der ARD befürchtete Wadym Bojtschenko, Bürgermeister von Mariupol, dass die russischen Besatzer nur noch das Referendum abwarteten, um die verbliebenen Männer im wehrfähigen Alter einzuziehen. Berichte über zwangsweise Rekrutierungen in den von den "Volksrepubliken" besetzten Gebieten in Luhansk und Donezk gab es bereits ganz zu Beginn der Eskalation.
Bewahrheiten sich diese Befürchtungen, bedeutet dies ein (weiteres) systematisches Kriegsverbrechen der russischen Armee. Gemäß Art. 51 des Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (IV. Genfer Abkommen) darf eine "Besatzungsmacht […] geschützte Personen nicht zwingen, in ihren Streitkräften oder Hilfskräften zu dienen. Jeder Druck und jede Propaganda, die auf den freiwilligen Eintritt in diese abzielt, ist untersagt." Mit "geschützten Personen" sind vor allem Zivilpersonen gemeint – also auch die Einwohner der besetzten Gebiete.
Die "Nötigung eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften einer feindlichen Macht" ist gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. a) Nr. v) des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (Römisches Statut von 1998, IStGH-Statut) sogar ein Kriegsverbrechen. Gleiches gilt für die Ausübung von "Zwang gegen Angehörige der Gegenpartei, an Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land teilzunehmen" (Art. 8 Abs. 2 lit. b) Nr. xv) IStGH-Statut. Das deutsche Völkerstrafrecht sieht mit § 8 Abs. 3 Nr. 3, 4 VStGB komplementäre Bestimmungen vor, sodass derartige Taten auch vor deutschen Gerichten angeklagt werden könnten.
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, ob und wie seit 2014 und erst recht seit Erklärung der "Teilmobilisierung" ukrainische Bewohner der Krim von Russland zum Dienst an der Waffe eingezogen wurden. Denn das Recht des bewaffneten Konflikts, das mit den o.g. Völkerstraftatbeständen strafbewehrt ist, gilt mit und für die Dauer einer militärischen Besetzung, so der gemeinsame Art. 2 der Genfer Abkommen von 1949.
Mobilisierung – ein Menschenrechtverstoß?
Auch die Teilmobilisierung in Russland selbst wirft Fragen auf. Berichten zufolge erfolgt diese äußerst ungleichmäßig in einer Weise, dass vor allem von ethnischen Minderheiten bewohnte Gebiete betroffen sind, während die "herrschenden" Metropolen Moskau und St. Petersburg und ihre ethnisch russischen Einwohner weitgehend verschont bleiben.
Bereits in den ersten Wochen der Invasion wurde von disproportional hohen Opferzahlen unter den Minderheiten aus Sibirien (etwa aus Burjatien) oder z.B. dem kaukasischen Dagestan berichtet. In den gleichen Regionen soll nun genauso disproportional mobilisiert werden.
Das kann im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen. Zwar gilt Wehrdienst gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. b) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Art. 8 Abs. 2 lit. c) Nr. (ii) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) nicht als verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit. Grundsätzlich können Staaten ihre Staatsangehörigen also zum Wehrdienst verpflichten.
Beide Verträge sehen aber ein Diskriminierungsverbot vor (Art. 14 EMRK, Art. 2 Abs. 1 IPbpR). Wenn der Grund der Einberufung in den Wehrdienst also in der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit liegt – was zum Teil behauptet wird, aber nicht gesichert ist – dann liegt darin eine Verletzung der Menschenrechte. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wären solche seit Mitte September nicht mehr justiziabel, da Russland aus der EMRK ausgetreten ist. Demgegenüber ist Russland weiterhin Vertragspartei des IPbpR, dessen Diskriminierungsverbot ausdrücklich notstandsfest ist, Art. 4 Abs. 1 IPbpR.
Träfen die von Aktivisten erhobenen Vorwürfe, Russland betreibe mit seiner Mobilisierung "ethnische Säuberungen" an der Heimatfront, zu, läge zusätzlich der Verdacht auf ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Art. 7 IStGH-Statut bzw. § 7 VStGB nahe.
Neue Phase des Konflikts
Russland ist mit dem Annexionsversuch von vier weiteren ukrainischen Gebieten in eine neue Phase der Eskalation eingetreten. Rechtlich ändert sich dadurch am Territorium der Ukraine nichts. Doch es reicht nicht aus, auf den Druck neuer Atlanten zu verzichten. Mit den russischen Versuchen, die Grenzziehung zu verändern, geht einher, dass Russland die Einwohner der besetzten Gebiete seinem eigenen Recht unterwerfen will. Das setzt sie dem Risiko aus, in den Krieg gegen die eigenen, ukrainischen Streitkräfte gezwungen zu werden. Sollte dies tatsächlich geschehen, wäre das ein weiteres, systematisches Kriegsverbrechen der russischen Seite.
Auch die inner-russische Situation verlangt nach Aufmerksamkeit. Dem russischen Staat wird vorgeworfen, bei der "Teilmobilisierung" zur Verstärkung der Streitkräfte vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten einzuziehen. Das ist mindestens unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten fragwürdig. Aktivisten sprechen gar von ethnischen Säuberungen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland auch "an der Heimatfront" Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.
Der Autor Simon Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.
* Textfassung vom 3.10.2022
Scheinannexionen ukrainischer Gebiete: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49783 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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