Nach Ukraine-Rede des russischen Präsidenten: Wie Putin sich das Völ­ker­recht zurecht­legt

Gastbeitrag von Prof. Dr. Hans-Joachim Heintze

22.02.2022

Russlands Präsident Putin hat die Staatlichkeit der Ukraine infrage gestellt. Das Abkommen aus Minsk scheint ihn nicht mehr zu interessieren. Was das über Putins Verständnis vom Völkerrecht aussagt, erklärt Hans-Joachim Heintze.

Wortreich und mit vielen Ausflügen in die Geschichte begründete Russlands Präsident Wladimir Putin am Montagabend seine Meinung, die Ukraine sei kein eigener Staat, sondern ein Teil Russlands. Er verwies auch darauf, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion im Interesse ihrer Machtsicherung immer wieder Grenzveränderungen zwischen den angeblich souveränen Sowjetrepubliken vorgenommen habe.

Letzteres ist zutreffend, wie das Beispiel der sogenannten "Chrustschow’schen Schenkung" 1954 durch Nikita Chrustschow zeigt, einem in den 1950er und 60er Jahren führenden Politiker der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Zur Feier des 300. Jahrestages der Vereinigung zwischen Russland und der Ukraine durch das Pereyslav-Abkommen entließ Chrustschow die Krim aus dem Verband der Russischen Föderation und übergab sie der Ukraine.

Dies war sicher ein Willkürakt in der Art einer Kolonialmacht nach dem Prinzip "Teile und Herrsche". Im Jahre 1991 initiierten die Kommunisten indes in Simferopol die Wiederherstellung der Autonomie der Krim im ukrainischen Staatsverband.

Dennoch ist dieses Geschehen für die heutige Rechtslage nicht von Belang, denn die Sowjetunion – juristisch gesehen eine Föderation – hat sich Anfang der neunziger Jahre aufgelöst und die Gliedstaaten wurden souveräne Staaten. Einher mit dem Zerfall der Föderation stellten sich viele Fragen, z.B. hinsichtlich des Vermögens und der Schulden der Union. Sie waren Gegenstand langer Verhandlungen und die Lösungen entsprangen oft der normativen Kraft des Faktischen. 

"Uti possidetis": Nachfolgestaat folgt in Staatsgrenzen des Vorgängerstaates

Einig waren sich die Nachfolgestaaten allerdings hinsichtlich der Anwendung des Prinzips des uti possidetis. Dieses Prinzip, wonach der Nachfolgestaat in die Staatsgrenzen des Vorgängerstaates nachfolgt, fand hundertfach während des Dekolonisierung in Afrika erfolgreich Anwendung. Die Kolonialmächte hatten alle Grenzen gezogen worden und dabei weder Siedlungsgrenzen der Völker noch deren historisches Zusammengehörigkeitsgefühl berücksichtigt. Die Grenzen folgten nur den Interessen der Kolonialmacht und dienten als Mittel der Herrschaftsausübung und zur Spaltung der Unterdrückten.

Dennoch bestand die Organisation für Afrikanische Einheit (Organisation of African Unity, OAU) seinerzeit auf dem Prinzip uti possidetis, weil sonst ein endloses Verändern von Grenzen befürchtet wurde, ohne dass tatsächlich mehr Stabilität erreicht worden wäre. Deshalb bezeichnete der UN-Generalsekretär die Entscheidung der OAU als "weise". 
Durch die vielfache Anwendung gehen heute viele Völkerrechtler von einem gewohnheitsrechtlichen Charakter dieses Prinzips aus. Für eine solche Annahme spricht auch, dass auch bei Zerfall Jugoslawiens so verfahren wurde, obwohl die Nachfolgestaaten Kroatien und Serbien hinsichtlich Bosnien-Herzegowinas andere Interessen hatten, sich aber nicht durchsetzen konnten.

Langes Ringen um die Krim

Die Ukraine ist seit dem 24. August 1991 ein Nachfolgestaat der UdSSR in den Grenzen der früheren Ukrainischen SSR der Sowjetzeit. Dies wurde von Moskau auch nicht bestritten, solange Kiew eine russlandfreundliche Politik betrieb. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war die Folge einer förmlichen rechtlichen Anerkennung der Ukraine einschließlich der Staatsgrenzen. Die Unverletzlichkeit der Grenzen wurde mit dem Vertrag über gegenseitige Beziehungen am 24. August 1992 bekräftigt.

Der Oberste Sowjet Russlands betrieb jedoch bereits 1992 die Rückgabe der Krim, was von der Ukraine entsprechend Art. 6 des Vertrages zurückgewiesen wurde. Dennoch erhob der Oberste Sowjet weiterhin das Vorhaben, die Krimübergabe ex tunc für nichtig zu erklären. Wegen der Schwäche Russlands während der Auflösung der UdSSR konnte sich Moskau aber nicht durchsetzen. 

Aber im Jahre 2014 besetzten (zum Teil getarnte) russische Truppen die Krim und anschließend erklärte die Autonomiebehörde ihren Beitritt zur Russischen Föderation. 2022 scheint sich diese Vorgehensweise in Bezug auf die beiden selbst ausgerufenen "Volksrepubliken" Luhans und Donesk in der Ostukraine zu wiederholen, auch wenn Putin jetzt die Entsendung von "Friedenstruppen" eingesteht

Russische "Friedenstruppen" verletzen Minsk-Abkommen

Zugleich erkannte der russische Präsident die beiden "Volksrepubliken" völkerrechtlich an. Diese Anerkennung stellt eine Verletzung des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates dar.

Deshalb hat die UNO beispielsweise die Anerkennung Nordzyperns untersagt, da dieser "Staat" das Ergebnis der Gewaltanwendung durch die Türkei darstellt (Resolution A/541 (1983) vom 18.11.1983). Diese Gewaltanwendung darf nicht legitimiert werden. Auch hinsichtlich der Annexion palästinensischer Gebiete rief die UNO zur Nichtanerkennung auf und bedauerte, dass die USA 2019 ihre Botschaft von Tel Aviv nach dem annektierten Ostjerusalem verlegte.

Mit den "Friedenstruppen" verletzt Putin das von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) initiierte Minsk-Abkommen vom 5. September 2014. Diese Vereinbarung wurde von Russland, der Ukraine und Vertretern der "Volksrepubliken" erzielt und umfasste seit 2015 Maßnahmen wie einen Waffenstillstand, Truppenrückzug und politische Reformen. Überwacht wurde es durch die Staaten des Normandie-Formats (Deutschland, Frankreich, Ukraine und Russland). Diese Staaten bekräftigten auch die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine.

"Friedenstruppen" als Aggression

Die "Friedenstruppen" stellen zudem eine Aggression dar. Gemäß der Definition fällt unter diesen Begriff "die Invasion oder der Angriff der Streitkräfte eines Staates auf das Hoheitsgebiet eines anderen Staates oder jede, wenn auch vorübergehende militärische Besetzung oder jede gewaltsame Annexion."

Das russische Vorgehen verletzt auch die Europäische Sicherheitsarchitektur, welche auf der sogenannten Schlussakte von Helsinki beruht. Diese bildet das Abschlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Europa, das im Jahre 1975 unterzeichnet wurde. Sie bestimmt: "Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben."

Welche Sanktionen drohen Russland?

Die Schlussakte ist jedoch nicht die einzige politische Vereinbarung, die Russland verletzt. Zu nennen ist auch das "Memorandum on Security Assurances in Connection with Ukraine’s Accession to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons” vom 5. Dezember 1994. Die Ukraine hatte seinerzeit die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen an Russland übergeben und dafür folgende Zusicherung erhalten: "Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten bekräftigen ihre Verpflichtung gegenüber der Ukraine, im Einklang mit den Grundsätzen der KSZE-Schlussakte die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten" (aus dem Englischen übersetzt).

Dieses mit der Unterzeichnung am 5. Dezember 1994 anwendbare Memorandum bindet Russland und enthält die Zusicherung, dass die drei Mächte keine ihrer Waffen gegen die Ukraine richten werden, außer im Falle der Selbstverteidigung.

Für die rechtstreuen Staaten ergibt sich eine Verpflichtung, gegen die russische Aggression vorzugehen. Dies muss in erster Linie im Rahmen des UN-Sicherheitsrates, der die Hauptverantwortung für die Friedenssicherung trägt, erfolgen. Da der Rat aber durch das Vetorecht Russlands zu keinen Zwangsmaßnahmen gegen Russland schreiten kann, verbleibt nur die Möglichkeit unilateraler Sanktionen der USA, Großbritanniens und der EU.  

Der Autor Prof. Dr. Hans-Joachim Heintze lehrt Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum.

Zitiervorschlag

Nach Ukraine-Rede des russischen Präsidenten: . In: Legal Tribune Online, 22.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47615 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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