Revision vorm BGH: Hat der Wei­marer Fami­li­en­richter Rechts­beu­gung begangen?

von Tanja Podolski

27.08.2024

Der BGH überprüft die Verurteilung eines Familienrichters aus Weimar wegen Rechtsbeugung. Der Mann hatte in der Corona-Pandemie die Maskenpflicht an Schulen aufgehoben. Der Fall bietet Material für die mündliche Prüfung.

Der 2. Strafsenat am Bundesgerichtshof (BGH) wird am Mittwoch überprüfen, ob sich ein Familienrichter vom Amtsgericht (AG) Weimar wegen Rechtsbeugung gem. § 339 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar gemacht hat (Az. 2 StR 54/24). Nach den Erkenntnissen des Landgerichts (LG) Erfurt hatte Richter Christian D. den Tatbestand der Norm verwirklicht, indem er bewusst die verfassungsrechtliche gebotene richterliche Unabhängigkeit aus sachfremden Motiven missachtet hat (Urt. v. 23.08.2023, Az. 2 KLs 542 Js 11498/21). 

Das Gericht in Thüringen hatte den Mann zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft und der D. haben Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge insbesondere die Strafzumessungserwägungen der Strafkammer.

D. wendet sich mit der Sachrüge und einer auf die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags gestützten Verfahrensrüge gegen seine Verurteilung. Bei dem Beweisantrag geht es um die Frage, ob das Tragen einer Maske von Schulkindern für diese schädlich war und die Schutzmaßnahme überhaupt das Pandemiegeschehen eindämmte. Wenn nicht, könnte der Richter nach Ansicht der Verteidigung materiell richtig gehandelt haben. In der Sachrüge geht es darum, dass der Richter den Tatbestand der Rechtsbeugung mit seinem Verhalten schon gar nicht verwirklicht habe.

Familienrichter wollte Corona-Maßnahmen an Schulen beenden

Der Tatvorwurf liegt in den Anfängen der Corona-Pandemie. D. erließ einen Beschluss, mit dem er für alle Kinder an zwei Schulen fast alle Schutzmaßnahmen gegen die Übertragung des Virus für beendet erklärte (Beschl. v. 08.04.2021, Az. 9 F 148/21). Alle Kinder dieser Schulen sollten danach keine Masken mehr tragen, keine Schnelltests durchführen, keine Abstände einhalten dürfen. Nur das Lüften der Klassenzimmer blieb erlaubt. Diese Entscheidung sollte für alle Schüler:innen, die Lehrer:innen, die Schulleitungen sowie deren Vorgesetzte gelten. Die anders lautenden landesrechtlichen Vorschriften in den Corona-Verordnungen erklärte D. für verfassungswidrig und damit nichtig. 

Das Thüringer Schulministerium legte sofortige Beschwerde gegen den Beschluss ein, das Oberlandesgericht (OLG) in Jena hob den Beschluss zeitnah auf. Der war damit aus der Welt, doch die strafrechtliche Aufarbeitung ging erst richtig los: Die Staatsanwaltschaft Gera hatte sofort ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung eingeleitet, es folgten diverse Durchsuchungen und Beschlagnahmen von Computern und Mobiltelefonen, dann die Anklageerhebung, die Suspendierung des Richters und schließlich der Prozessauftakt und die Verurteilung. Am Mittwoch kommt es nun zur Revisionsverhandlung vor dem BGH.

Juristisch stellten und stellen sich in dem Fall vor allem zwei interessante Fragen. Zum einen geht es darum, wer in solchen Verfahren um die Kindeswohlgefährdung zuständig ist. Zum anderen darum, ob ein Familienrichter Rechtsbeugung begeht, wenn er sich im Vorhinein mit den Sachfragen befasst. Beide Fragen sind relevant für die anstehende Verhandlung am BGH. 

Frage 1: Die Zuständigkeit der Familiengerichte

Die Frage nach der Zuständigkeit der Familiengerichte schien seinerzeit auf den ersten Blick sehr schnell beantwortet: Ein Familienrichter ist zwar für die Fragen des Kindeswohls zuständig, bei einem Vorgehen gegen hoheitliche Maßnahmen wie die Vorgaben zur Eindämmung des Virus aber sind die Verwaltungsgerichte zuständig. 

Doch was Jurist:innen im Grundsatz in den ersten Semestern an die Uni lernen, sorgte in der Praxis für Zuständigkeitsgerangel. Denn nach der Entscheidung aus Weimar stellten bundesweit Eltern Anregungen an die Familiengerichte zur Einleitung von Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung. Die Familiengerichte hielten sich selbst aber in der Regel für unzuständig – weil es eben um die hoheitlichen Maßnahmen ging – und verwiesen an die Verwaltungsgerichte. Auch die kamen aber zum Ergebnis, nicht zuständig zu sein – eben, weil es um das Kindeswohl ging, für das sie selbst nicht zuständig sind. 

Das Gesetz hat für solche sogenannten negativen Kompetenzkonflikte eine Lösung: Da sich zwei Gerichte für unzuständig hielten, konnte u.a. das VG Münster direkt das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) anrufen, § 53 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) analog. Eine solche Anrufung eines Bundesgerichts erfolgte auch auf zivilrechtlicher Ebene, sodass entsprechende Verfahren um die Frage nach der Zuständigkeit sowohl beim BVerwG als auch beim Bundesgerichtshof (BGH) anhängig wurden.

Das Ergebnis war bei beiden Bundesgerichten gleichlautend und im Kern eindeutig: Familiengerichte (FamG) dürfen gegenüber schulischen Behörden keine Anordnungen zum Kindeswohl treffen – auch nicht in Sachen Corona-Schutzmaßnahmen (BGH, Beschl. v. 06.10.2021, Az. XII ARZ 35/21; BVerwG, Beschl. v. 26.05.2021, Az. 5 L 339/21; Beschl. v. 31. 05.2021, Az. 5 L 344/21 u.a.).

Die Entscheidung des BVerwG wird gelegentlich rechtlich ungenau wiedergegeben. Richtig ist: Es hat entschieden, dass die Familiengerichte für die Anregungen für ein gerichtliches Tätigwerden nach § 1666 BGB zuständig sind, eine Verweisung an die Verwaltungsgerichte ein grober Verfahrensverstoß wäre. Die Rechtsfolge ist laut BVerwG dann nicht etwa, dass das Familiengericht die behördlichen Maßnahmen aufheben könnte. Vielmehr dürfen die Familiengerichte entweder erst gar kein Verfahren nach § 1666 BGB eröffnen oder müssen ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen. Eltern, die über Kindeswohlverfahren an den Familiengerichten versuchten, Corona-Maßnahmen anzugreifen, müssten sich mit anderen, juristisch richtigen Anträgen an die Verwaltungsgerichte wenden. Familiengerichte jedenfalls könnten nicht über die Aufhebung von Corona-Schutzmaßnahmen entscheiden.

D.s Verteidigung wird nach LTO-Informationen in der Revisionsverhandlung trotzdem vortragen, dass das BVerwG die Zuständigkeit der Familiengerichte festgestellt habe. Man darf davon ausgehen, dass sich der BGH von diesem Vortrag mit Verweis auf seine klare Rechtsprechung nicht überzeugen lassen wird.

Frage 2: War das Rechtsbeugung?

Spannender dürften die Aussagen des BGH zur Rechtsbeugung werden. Nach Ansicht der Verteidigung ist der Tatbestand des § 339 StGB weder objektiv noch subjektiv erfüllt. Das LG Erfurt habe die Besonderheiten des amtswegigen Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung nicht zur Kenntnis genommen. 

Damit stellt die Verteidigung darauf ab, dass ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung von Amts wegen eingeleitet wird. Es sei dem Verfahren immanent, dass ein Richter sich daher vor der Eröffnung schon mit der Sache befasst – ansonsten sei es ihm nicht möglich, den Fall zu beurteilen. “Die Ansicht, dass eine eigene Meinung des Angeklagten dazu führe, dass er ein solches Verfahren nicht hätte führen dürfen, ist ein Grundirrtum des vom LG Erfurt gesprochenen Urteils”, sagt Dr. Gerhard Strate, Verteidiger des Weimarer Familienrichters, zur Begründung der Revision gegenüber LTO. Es stelle sich die Frage, ob man einem Richter nach § 1666 BGB einen klaren Auftrag geben, ihm dann aber die Wahrnehmung dessen zum Vorwurf machen könne, nur weil er nach seinen Vorstellungen konsequent gehandelt habe. Die Voreingenommenheit sei in der Struktur des Kindeswohlverfahrens und der Rolle des Familienrichters angelegt. Auf seiner argumentativen Seite hat Strate die Strafrechtlerinnen Professorin Dr. Elisa Marie Hoven, Lehrstuhlinhaberin an der Uni Leipzig, und Professorin Dr. Dr. Frauke Rostalski, Lehrstuhlinhaberin an der Uni Köln. 

Der BGH selbst sagt: “Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung beugt das Recht. Nach ständiger Rechtsprechung erfasse § 339 StGB vielmehr nur den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, bei dem sich der Amtsträger bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei vom Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände zu entscheiden. Bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht kann neben dessen Ausmaß und Schwere insbesondere auch Bedeutung erlangen, welche Folgen dieser für die Partei hatte, inwieweit die Entscheidung [objektiv] materiell rechtskonform blieb und von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ” (BGH, Beschl. v. 18.04.2024, Az. 6 StR 386/23). 

Hat das LG Erfurt alles Notwendige bewertet?

Nach Ansicht von Verteidiger Strate müssten daher bei einer wertenden Gesamtbetrachtung auch die Maßnahmen überprüft werden, die der Richter beenden wollte, in diesem Fall die Corona-Schutzmaßnahmen: Waren diese effektiv und zumutbar oder gab es dafür keine wissenschaftliche Evidenz? Das sei – durch die Ablehnung des Beweisantrags – noch gar nicht geprüft worden, so Strate. Dabei sei es für eine Verurteilung D.s entscheidend, ob es – wie es der BGH verlange – eine konkrete Gefahr für eine falsche Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei gegeben hat, ob die Entscheidung materiell rechtskonform war und von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ. 

Das LG sah allerdings keine Relevanz in der Beweiserhebung durch die Gutachter für die Entscheidung: Der Richter habe schon in seiner Einlassung dargelegt, dass seine Motivlage war, eine mögliche Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Für den Vorwurf der Verletzung von Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften seien diese Fragen aber nicht relevant, entschied das LG in seinem ablehnenden Beweisbeschluss.

Auf 139 Seiten legte die Kammer des LG Erfurt in dem Urteil die Verhaltensweisen dar, die das Gericht dem Familienrichter zur Last legte: Unter anderem Absprachen mit Kollegen zu möglichem Vorgehen gegen die Corona-Maßnahmen, bewusste Kontaktaufnahmen zu möglichen Klägern in seinem Dezernat, die Überarbeitung der Anregungen vor deren offizieller Einlegung, bewusste Auswahl von Gutachtern, die in seinem Sinne entscheiden würden, und die Vorabauswahl möglicher Rechtsbeistände, die er zuordnen könnte. 

Für das LG reichte das alles aus, um anzunehmen, dass D. von vornherein das Ziel hatte, die Corona-Schutzmaßnahmen über das Kindeswohlverfahren auszusetzen und sich dazu bewusst von Recht und Gesetz entfernte, um zu dieser willkürlichen Entscheidung zu kommen. Für Strate ist das nicht eindeutig: “Der Angeklagte hat jedenfalls keinen elementaren Rechtsverstoß begangen, denn er hat nicht aus sachfremden Motiven heraus gehandelt”, meint der Verteidiger. Vielmehr habe D. “seine Entscheidung nicht an Maßstäben ausgerichtet, die im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hätten. Er sei vielmehr, aus seiner Perspektive, dem gesetzlichen Auftrag zum Schutz des Kindeswohls gefolgt.”

Ob der BGH das auch so sieht, wird sich am Mittwoch zeigen. 

Zitiervorschlag

Revision vorm BGH: . In: Legal Tribune Online, 27.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55275 (abgerufen am: 29.08.2024 )

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